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Die Walkemühle
Landerziehungsheim von (1921-1933)
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12 Kapelle

Die Abende in der Kapelle sollten ein Kontrast sein zum übrigen Tagesablauf, wo man mit Aufgaben eingedeckt war, ein Kontrast zum rationalen Unterricht und zur Strenge der auferlegten Pflichten: Kunstgenus - Feier - Sammlung.

Die Teilnahme an diesen Abenden war aber wiederum Pflicht für alle Erwachsenen. Ungeachtet dessen besaßen diese Abende eine so große Bedeutung für die meisten, dass viele mir gegenüber sehr schnell darauf zu sprechen kamen.

Eine Schülerin:

"An jedem Mittwoch und jedem Sonnabend oder Sonntag hatten wir Kapellenabende in dem Häuschen von Heinrich Nelson. Dort gab es einen schönen großen Raum mit Blick auf die Berge. Im Raum gab es nur einen Perserteppich, einige gute Bilder an den Wänden, eine große holzgeschnitzte Truhe, Stühle für uns und Heinrich Nelsons schwarzen Flügel.

Wir haben immer Feldsträuße für diese Kapellenabende gesucht. Raus in die Natur! Und der alte Vater Nelson hatte zwei große griechische Vasen, da konnte man diese herrlichen Je-länger-je-lieber hineinstellen, so hießen die Blumensträuße damals.

Und Heckmann, der Mathematiklehrer in der Walkemühle las dann zum Beispiel an solchen Kapellenabenden aus dem Roman von Dostojewski ,Schuld und Sühne' die Unterhaltung zwischen dem Mörder und der Hure über Gott. Diese Abende werde ich nicht vergessen, auf diese Art und Weise bin ich überhaupt erst zu Dostojewski gekommen. Der Heckmann hatte sich zu der Zeit so in Dostojewski hineingelegt, wenn er durch die Küche ging, zitierte er immer aus Schuld und Sühne und vergaß alles um sich her.

Eines Tages war ein herrlicher Herbsttag. Minna sagte: "Alles raus!  Kind und Kegel, bei diesem Wetter wird nicht gelernt!" Klarer blauer Himmel.  Wir waren jung, und alles war froh, dass es raus konnte; und wir liefen, tippelten drei Stunden bis rüber über den Berg der Fulda. Und da wurde erst einmal geschwommen! 

Dann packten wir unsere einfachen Brote mit Erdnüssen aus, lagen dann so herum, im Kreis, Heckmann in der Mitte las den Rest aus Schuld und Sühne vor. Das war wunderbar, das waren wunderbare Momente.

Und dann zurück. Die Kräftigen wollten zurückschwimmen, durch die Fulda von oben herunter bis zur Walkemühle. Und die Fulda ist zum Teil furchtbar wild, da geht es tief und flach, und dann rutscht man über die Steine; das hat uns Julie Pohlmann, der Gesundheitswart, aber verboten, sie wollte das Risiko nicht auf sich nehmen.

Dann sind wir wieder zurückgegangen, und wir sangen die ganzen Revolutionslieder. Wir waren doch alle so begeistert von der russischen Revolution. Wir wussten ja noch nicht, dass das so eine Entwicklung nimmt. Das war damals die große Sache und wir sangen die Warschawjanka, ,Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin', ,Höher und höher' und ,Im Osten blüht der junge Tag'. Die Warschawjanka haben wir auch oft abends in der Kapelle gesungen.


 

Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte,
drohende Wolken verdunkeln das Licht.
Mag uns auch Schmerz und Tod nun erwarten,
gegen die Feinde ruft auf uns die Pflicht.
Wir haben der Freiheit leuchtende Flamme
hoch über unseren Häuptern entfacht;
die Fahne des Sieges, der Völkerbefreiung,
die sicher uns führt in der letzten Schlacht.

Auf, auf nun zum blutigen, heiligen Kampfe,
bezwinge die Feinde, du Arbeitervolk.
Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden,
erstürme die Welt, du Arbeitervolk!

Tod und Verderben allen Bedrückern,
leidendem Volke gilt unsere Tat,
kehrt gegen sie die mordenden Waffen,
daß sie ernten die eigene Saat!
Mit Arbeiterblut gedüngt ist die Erde,
gebt euer Blut für den letzten Krieg,
daß der Menschheit Erlösung werde!
Feierlich naht der heilige Sieg.

Auf, Auf, auf nun . . .

Elend und Hunger verderben uns alle,
gegen die Feinde ruft mahnend die Not.
Freiheit und Glück für die Menschheit erstreiten !
Kämpfende Jugend erschreckt nicht der Tod.
Die Toten, der großen Idee gestorben,
werden Millionen heilig sein.
Auf denn, erhebt euch, Brüder, Genossen,
ergreift die Waffen und schließt die Reihn !

Auf, auf nun . . .

Worte: Waclaw Swiecicki
Musik: Nach dem "Marsch der Zuaven"


Dann wanderten wir also froh, fröhlich gestärkt durch das Schwimmen, zurück. Die zwei, die in der Walkemühle geblieben waren - es musste ja immer jemand da bleiben für den Fall, dass irgendwo ein Feuer ausbrach, die hatten dann aus frischen Erdbeeren rohen Erdbeersaft gemacht, und wir kriegten also diesen herrlichen frischen Erdbeersaft - das schmeckte damals ja noch.

Da sagte Minna Specht: ,Wer will mit in die Kapelle? Ich spiele aus der 6. Symphonie die heitere Ankunft auf dem Lande!' Und dann zogen wir rüber, nicht alle, denn es waren ja nicht alle musikalisch interessiert, und sie saß da und spielte und erklärte uns dann: ,Das Gewitter - jetzt zieht das Gewitter wieder ab - jetzt kommt der Sonnenschein.'

Das war einer der schönsten Tage, die ich je in meinem Leben erlebt habe." (Emmi Gleinig)

Eine andere Schülerin schreibt über die Kapellenabende:

"Die Teilnahme an den ,Kapellen' war für alle Erwachsenen verbindlich. Gelegentlich wurde gegen diese Verpflichtung von Neuankömmlingen opponiert. Man könne sich nicht von vornherein zu feststehenden Zeiten aufnahmefähig machen für Musik oder Literatur; diese Dinge sollten dem einzelnen überlassen bleiben. Solchen Kameraden wurde dann wohl für eine Weile die Beteiligung freigestellt. Aber es dauerte nicht sehr lange, dann kamen auch sie. Denn natürlich drangen die Erlebnisse dieser Stunden auch nach draußen.  Mozart, Bach, Beethoven, Haydn, Homers Ilias, Dostojewskij, van Goghs Briefe an seinen Bruder Theo und vieles andere hat mancher erst dort richtig kennen gelernt.

So oft Minna Specht von ihren Einkaufsreisen zurückkehrte (wir beneideten sie oft um die Möglichkeit des Einkaufens), brachte sie uns schöne neue Platten mit. ,Sous les toits de Paris' inspirierte selbst die Kinder zu einem Theaterspiel.

Aber auch die Bewohner der Mühle selber gestalteten manche Abende von sich aus je nach den vorhandenen Talenten: Klavier, Geige, Gesang, Rezitation oder die einfache Erzählung von Erlebnissen, wenn jemand ,draußen' gewesen war, oder von einem, der eine besonders interessante Vergangenheit hatte.

Keinen dieser Abende hätte ich missen mögen. Es waren immer Stunden der Sammlung und der Besinnung, die uns eine Welt erschlossen, zu der manche von uns bis dahin noch keinen Zugang gehabt haben."  (50)

Eine Helferin:

"Ich und viele von uns haben uns immer auf die Kapellenabende richtiggehend gefreut. Da hat man sich ein anderes Kleid angezogen, man hat sich die Haare frisch gemacht, das war ein bisschen feierlich.

Abends in der Kapelle waren nur die Großen, die Kinder mussten ja schon um acht ins Bett und hatten auch ihre eigenen Feiern. Minna hat da oft mit Vater Nelson vierhändig Klavier gespielt, und manchmal sang eine Lehrerin sehr schön an diesen Abenden." (Hedwig Urbann)

"Manchmal las man sich auch etwas vor, das man selber geschrieben hatte. Es war auch jeder mal an der Reihe, etwas zu erzählen. Die neu auf der Walkemühle waren, erzählten da meist, was sie bisher erlebt hatten, woher sie kamen, damit man sie kennen lernen konnte.

Eine ganze Reihe Schüler und Lehrer spielten auch ein Instrument. Und wenn da an einem Kapellenabend zwei am Flügel saßen, drei mit Geigen daneben standen und wenn dann noch Bratsche oder Cello dazu kam und die die erstklassigen Sachen von Mozart, Beethoven und Bach spielten, das war schon eine Wucht."  (Willi Warnke)

"Zu Weihnachten war auch der Komponist Krenek mal da. Er machte da den vergeblichen Versuch, uns mit seiner damals supermodernen Musik vertraut zu machen. Wir hatten aber Mozart und Beethoven kennen gelernt, da war der Neuntöner Krenek nichts." (Helmut Schmalz)

"An den Kapellenabenden wurde z. B. etwas von Erich Mühsam, Bruno Schönlank oder Christian Morgenstern vorgelesen." (Helmut Schmalz)

"Wir lasen zum Beispiel Werke wie ,Schuld und Sühne' von Dostojewskij, ,Briefe an Theo' von van Gogh, ,Julius Cäsar' von Shakespeare, ,Mein Leben' von Trotzki und ,1793' von Victor Hugo." (51)

Diese Kapellenabende hatte Minna Specht bei Lietz im Landerziehungsheim Haubinda kennen gelernt.  Es war die "stille Abendstunde, in der Lietz seine Hausgenossen um sich sammelte, um sie nach all den Zerstreuungen und den vielfachen Anforderungen des Tages hineinzuführen in die Welt des Schönen, in die Welt der ewigen Werte." (52)

Die Kapellenabende standen aber auch noch im Zusammenhang mit der Praxis der Freidenkerbewegung. Hier waren alle aus der Kirche ausgetreten, "ja militant gegen die Kirche"(Helmut Schmalz), und suchten nach neuen gemeinsamen Ritualen und Feiern, die ihnen Stärkung und Erbauung geben sollten.

"In Göttingen, die Freidenkergruppe hatte dort damals 1200 Mitglieder, wurden am Sonntag Matinees organisiert. Da kamen Rezitatoren und Musiker vom Theater hin. ...Die waren sehr, sehr gut besucht, obwohl jeder eine Mark Eintritt zahlen musste, Solidarität einfach durch Handaufheben gab es damals nicht." (Helmut Schmalz)

Diese Kapellenabende gab es von Anfang an auf der Walkemühle. Das zeigt auch schon der Wochenplan, den Minna Specht 1925 der Schulbehörde zugeschickt hatte:


Wochenplan

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