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Die Walkemühle
Landerziehungsheim von (1921-1933)
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16 Was sonst noch auf der Walkemühle geschah.

"Gelddinge"

1929 erschien in der Zeitschrift "Volkslehrer", Heft 18, ein Artikel über die Tagung der Gesellschaft der Freunde der Philosophisch-Politischen Akademie (GFA) in der Walkemühle. Die GFA organisierte, wie oben erwähnt, die Finanzierung des Schulversuchs dort. Die Beobachtung der Walkemühle durch die Schulaufsichtbehörden ließ den Artikel in die Akten der Kasseler Regierung kommen. Was der Behörde am wichtigsten war, hob sie durch Unterstreichungen hervor:

Eine Tagung für Politik und Erziehung

"Am Sonntag, den 4. August, tagte im Landerziehungsheim Walkemühle bei Melsungen die von Leonard Nelson im Dezember 1918 gegründete ,Gesellschaft der Freunde der Philoso­phisch-Politischen Akademie e.V.'. Die Tagung wurde durch zwei bedeutungsvolle Reden eingeleitet.

Dr. Grete Hermann (Göttingen) stellte in ihrer Rede das Kapitel ,Erziehung und Unterricht' aus dem zur Drucklegung kommenden zweiten Band von Nelsons ,Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik' in kurzen Umrissen dar. Die Ethik fordert, dass die jungen Menschen zur Erfüllung ihrer Pflicht tauglich gemacht werden. Darüber hinaus sollen sie fähig sein, den Idealen der Wahrheit und Schönheit nachzustreben, deren Verwirklichung dem Leben erst einen Wert gibt. Dabei lässt Nelson nicht außer acht, dass jeder Gesellschaftszustand zu verwerfen ist, der nicht die Anforderungen der Gerechtigkeit erfüllt, und dass jede Erziehung ein Verbrechen ist, die nicht ihre erste Aufgabe darin sieht, das Rechtsbewusstsein im Kind zu entwickeln.

Professor Dr. Franz Oppenheimer sprach über das Thema ,Aufgaben und Methoden der Siedlung.' Die herrschende Klasse verhindert durch die von ihr ausgehende Ausbeutung, dass die Menschen vernünftig erzogen werden. Hier setzt die Aufgabe der Nationalökonomen ein: die Wege zur Lösung der sozialen Frage aufzuweisen und dadurch  mitzuhelfen, die Menschen von dem auf ihnen lastenden Druck zu befreien. Die Beseitigung der sozialen Not, die durch gewaltsame Aneignung von Grund und Boden entstanden ist, ist letzten Endes eine ethische Aufgabe. Ethik und Volkswirtschaft greifen hier ineinander wie zwei Räder einer Maschine. Es ist daher kein Zufall, dass der Philosoph Nelson mit dem Ökonomen Oppenheimer zusammentraf, obgleich sie von ganz verschiedenen Punkten ausgegangen waren, dass sie die Probleme der Sozialpolitik gemeinsam zu lösen suchten und Freunde wurden. Oppenheimer und Nelson blieben beide nicht bei der Theorie stehen. Der Nationalökonom gründete Siedlungen, der Philosoph schuf Einrichtungen zur Erziehung politischer Führer, unter anderem das Landerziehungsheim Walkemühle.

Der Gesellschaftsbericht der Gesellschaft, den Dr. Helmut Rauschenplat gab, zeigte einen starken Anstieg der Mitgliederzahl. Auch die durch die Gesellschaft finanzierten Unternehmen haben erfreuliche Fortschritte gemacht. Das Landerziehungsheim Walkemühle hat sich - seiner Aufgabe entsprechend - zu einer internationalen Schule entwickelt. Schüler und Helfer gehören verschiedenen Ländern an: Deutschland, England, der Schweiz und der Tschechoslowakei. Die jungen Proletarier, die vom dritten Jahre an aufgenommen werden können und von denen ein großer Teil erst mit fünfzehn Jahren hinkommt,  leben in einer engen Gemeinschaft mit Lehrern und Helfern. Die Verschiedenheit der Sprache und den nationalen Sitten erschwert anfangs die Arbeit. Aber wenn diese rein äußeren Schwierigkeiten einmal überwunden sind, ist ein gutes Stück Erziehung im internationalen Geist geleistet, von dem heute selbst in der klassenbewussten Arbeiterschaft so wenig zu finden ist. Durch den Ausbau der Gebäude im vergangenen Jahr ist eine Gelegenheit geschaffen worden, ehemalige Schüler der Walkemühle und andere im politischen Kampf stehende Menschen in Kursen zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuführen  zu dem Zweck, das Verständnis der philosophischen und politischen Grundsätze zu vertiefen und die Methoden ihrer Anwendung auf das öffentliche Leben zu verbessern.

Der Verlag "Öffentliches Leben", ein anderes Arbeitsgebiet der GFA, hat neben der Veröffentlichung von politischen und pädagogischen Schriften in deutscher, englischer, französischer, bulgarischer, italienischer und chinesischer Sprache jetzt damit begonnen, die ,Abhandlungen der Fries'schen Schule' fortlaufend herauszugeben. Seine nächste größere Aufgabe wird sein, den Nachlass Leonhard Nelsons, des ersten   Leiters  der  Philosophisch - Politischen Akademie, zu veröffentlichen, zunächst den im System der ,Ethik' noch fehlenden zweiten ,Ethik und Pädagogik'. "  (63)

Ein Helfer erinnert sich noch an diese Tagung:

"Dort lernten wir dann einige der Menschen kennen, welche die Walkemühle finanziell unterstützten; so sprach auch Max Wolf dort, der Inhaber der Drei-Turm-Seifenfabrik bei Schlüchtern. Die Nazis sagten zu dem immer: ,Der Seifenjude Wolf'.

Max Wolf sprach dann dort: Er fühle sich verpflichtet, genauso, wie er jeden Monat seine Steuern zahle, einen Teil seines Einkommens an die GFA zu zahlen. Neben Wolf tat noch der Schweizer Textilienhändler Roos ziemlich viel für die GFA. Roos hatte während des ersten Weltkrieges in England mit der Lieferung von Textilien an das Militär gute Geschäfte gemacht und wollte nun etwas Sinnvolles mit seinem Geld anfangen. Als Philanthrop und Anhänger einer natur- und vernunftgemäßen Erziehung unterstützte er dann Nelson.

Neben diesen großen Finanzierungsleuten gab es noch sogenannte Patenstellen: Einzelne Mitglieder der GFA bezahlten durch einen monatlichen Beitrag von fünfzig Mark den Lebensunterhalt eines Schülers oder Helfers auf der Walkemühle."  (Willi Schaper)

Ein anderer Helfer:

"Was der Seifenfabrikant Wolf zahlte, wusste ich genau, denn in der Zeit nach 1930 führte ich zwei Jahre die Kasse in der Walkemühle, - der bezahlte einen Monatsbeitrag von einem Tausendmarkschein.

Jedes andere Mitglied der GFA zahlte einen Mindestbeitrag von sechzig Mark im Monat. So Leute wie ich hätten da nie Mitglied werden können. Überlegen Sie einmal, der Wochenlohn für einen Facharbeiter war zu der Zeit Spitze dreißig Mark.

Viele Leute, die ganz schön Geld hatten, blieben auch in der Anonymität, wie zum Beispiel ein Optiker aus Kassel." (Willi Warnke)

Trotzdem reichte das Geld für manchmal achtzig Personen auf der Walkemühle kaum aus, es musste überall gespart werden.

Vom preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, vom Innen- und vom Finanzministerium war die Walkemühle zwar 1926 als gemeinnützig anerkannt worden und erklärt worden, dass die Grund- und Haussteuererträge gestundet und niedergeschlagen werden könnten, doch die unteren Steuerbehörden in Melsungen und Kassel kümmerte das zuerst wenig.

Erst nach mehreren Eingaben beim "Grundsteuerberufungsausschuss" bei der Regierung in Kassel und nochmaliger Inspektion der Schulbehörde durch den Regierungsdirektor Dr. Kuchen konnte Minna Specht den folgenden Brief nach Kassel schreiben:

Erziehungsheim Walkemühle

"Sehr geehrter Herr Regierungsdirektor!

Sie erinnern sich vielleicht, dass ich Sie vor einigen Monaten bat, uns zu helfen gegen die Belastung unserer Schule mit erdrückend hohen Steuern. Sie meinten zwar damals, dass ihre Unterstützung uns in diesem Falle nicht viel nützen könne. Nun hat sich aber doch gezeigt, wie wertvoll ihre freundliche Unterstützung auch diesmal für unsere Schule war.

Durch ihre freundliche Fürsprache wurde der Grundsteuerausschuss Melsungen dazu veranlasst, die Einschätzung unserer Gebäude nachzuprüfen. Bisher hatte er eine Nachprüfung abgelehnt. Nun stellte sich heraus, dass die Unterlagen für die bisherige Einschätzung falsch waren. Diese Feststellung hatte zur Folge, dass der Steuerwert auf ein Fünftel des bisher angenommenen Steuerwertes herabgesetzt wurde. Wir haben nunmehr statt M 100.- Hauszinssteuer  monatlich nur M 20.-  zu  zahlen.

Wir erhoffen eine weitere Erleichterung von einem noch laufenden Gesuch auf Befreiung von der Haussteuer und Grundvermögenssteuer. Zur Zeit müssen wir leider außer der Hauszinssteuer monatlich M 19,80 Grundvermögenssteuer an den Staat und M 59,40 Gemeindezuschlag dazu an die Gemeinde Adelshausen zahlen. Das sind monatlich immer noch M 100,--. Wir hoffen sehr, dass auch diese Last noch erleichtert wird. Das wird der Fall sein, sobald der Grundsteuerausschuss Melsungen unser Schulunternehmen als gemeinnützig anerkennt, was seitens des Kultusministers und Finanzministers schon längst geschehen ist.

Indem ich Ihnen für die große Erleichterung, die uns Ihre freundliche Hilfe verschafft hat, sehr danke, bin ich Ihre sehr ergebene

Wie die Hilfe, von der Minna Specht spricht, ausgesehen hatte, kann man  heute in den Sonderakten des Kasseler Regierungspräsidenten betreffs des Landeserziehungsheims Walkemühle im Staatsarchiv Marburg lesen:

Dr. Kuchen hatte einen ausführlichen Inspektionsbericht über die Schule geschrieben und den Antrag auf finanzielle Erleichterung unterstützt.

Ich werde diesen Bericht, der handschriftlich verfasst worden ist, im folgenden in seiner ganzen Länge wiedergeben, da er neben anschaulichen einzelnen Eindrücken von dem Geschehen auf der Walkemühle, besonders auch durch seine Sprache, einen guten Eindruck von dem damaligen Verständnis eines Schulaufsichtsbeamten vermittelt.

Bericht des Dr. Kuchen

"Bei dem Unterricht der schulentlassenen Zöglinge scheint ein fester Lehrplan und ein bestimmtes Lehrziel nicht vorgesehen: In tageweiser Abwechslung werden vorzugsweise Mathematik, Naturwissenschaften, Erdkunde und Volkswirtschaftslehre betrieben. Die Lehrmethode wird von den Lehrenden als eine ,sokratische' gekennzeichnet. Unter Verwerfung jeder dogmatischen und autoritativen Einwirkung sollen die Schüler zur kritischen Unterstützung erzogen und befähigt und dazu angehalten und angeleitet werden, sich ihr Wissen und ihre Weltanschauung in selbständigem Denken zu erarbeiten. Zu diesem Zweck sind neben dem meist auf den Vormittag gelegten gemeinsamen Unterricht an den Nachmittagen besondere Studiumsstunden und Einzelarbeitsabende bestimmt, in denen der im Unterricht behandelte Stoff durchgearbeitet und das hier Aufgenommene durch eigene Arbeit ergänzt und vertieft werden soll. Daneben finden zweimal in der Woche Diskussionsabende statt.

Die körperliche Ertüchtigung wird eifrig gepflegt durch morgendliches Abduschen und einen täglichen halbstündigen Dauerlauf sowie durch Turnstunden und zwischen den Stunden geistiger Betätigung eingeschaltete Turn- und Laufzeiten. Auch Gartenarbeit wird getrieben und häufige Wanderungen unternommen.

Fast jeder Zögling  verfügt über ein eigenes, kleines, bescheiden, aber ausreichend ausgestattetes Zimmer und einen eigenen Arbeitsplatz. Mehr wie zwei Personen sind in keinem Raum untergebracht. Alle Unterkunftsräume werden sauber und gut gehalten. Ihre tägliche Reinigung und andere häusliche Verrichtungen, wie Reinigung der Kleider und Stiefel usw. werden von den Zöglingen selbst besorgt, die sich dabei gegenseitig kontrollieren. Die Oberbekleidung ist nicht uniform, aber durchweg praktisch, einfach, dezent und sauber. Alle Mahlzeiten werden gemeinsam und möglichst im Freien eingenommen an sauber gedeckter mit Gartenblumen geschmückter Tafel. Auch die meisten Fenster zeigen sauber gepflegten Blumen-schmuck. Die Verköstigung ist sehr einfach und, abgesehen von Milch und Eiern, rein vegetarisch. Der gesamte Gemüse- und Obstbedarf wird aus dem Garten gewonnen, alles andere muss, da keine Landwirtschaft betrieben, wo noch Vieh oder Geflügel gehalten wird, angekauft werden. Dabei wird darüber geklagt, dass die Knappheit der Mittel den Konsum von Milch und Eiern nur in sehr beschränktem u. immer in einem für das Bedürfnis kaum ausreichenden Maße gestattet.

Der  tatsächliche Aufwand für die Verköstigung soll auf den Kopf im Durchschnitt auf nur 52 Pfg. täglich berechnet sein. Trotz dieser für Jugendliche und geistig arbeitende Personen mitunter sehr bescheidenen Ernährung machen die Zöglinge durchweg einen gesunden und frischen und keineswegs unterernährten Eindruck, im Unterschied zu einem Teil der Lehrpersonen, bei denen der Verdacht einer gewissen Unterernährung nicht unbegründet erscheint.

Der Aufenthalt in dem Erziehungsheim ist für sämtliche Insassen, für die Zöglinge sowohl wie für die Lehrpersonen, grundsätzlich völlig unentgeltlich. Selbst die Kleidung wird für gänzlich mittellose Zöglinge von der Anstalt beschafft. Nur ausnahmsweise wird von einem Zögling, wenn er über einige Mittel verfügt, eine kleine Beisteuer für seinen Unterhalt verlangt, und nur für das vierjährige kleine Mädchen wird von den Eltern, die beide in Berlin im ärztlichen Beruf tätig sind, ein monatliches Kostgeld von vierzig Mark gezahlt. Durch die Beschränktheit der Mittel ist der Möglichkeit der Aufnahme einer größeren Zahl von Zöglingen an sich schon eine enge Grenze gezogen. Hiervon abgesehen scheint aber auch die Gewinnung von solchen gewisse Schwierigkeiten zu bereiten, namentlich auch hinsichtlich von Kindern im schulpflichtigen Alter, deren Aufnahme von der Anstalt offenbar besonders angestrebt wird, um die Zöglinge möglichst frühzeitig u. möglichst lange dem Einfluss ihrer Erziehungsmethode zu unterstellen.

Die zur Zeit im Erziehungsheim vereinigten Zöglinge haben sämtlich auf Grund von persönlichen Beziehungen Aufnahme gefunden und sind augenscheinlich sehr sorgfältig ausgewählt, wie ihre Haltung, Begabung und Arbeitsfreudigkeit erkennen lässt.

Die den Zöglingen gestellte Frage, wie sie sich ihre weitere Zukunft nach ihrem Wiederausscheiden aus der Anstalt dächten, wurde dahingehend beantwortet, dass sie durchweg und grundsätzlich beabsichtigen u. wünschen, demnächst zu ihrem ursprünglichen Beruf zurückzukehren. Für die Einbuße, die sie durch eine mehrjährige Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit in ihrem Vorwärtskommen und in pekuniärer Beziehung erlitten, glauben sie sich entschädigt durch die geistige Durchbildung und durch den persönlichen inneren Gewinn, den sie aus dem Aufenthalt in der Anstalt zu ziehen hoffen.

Ferner konnte festgestellt werden, dass durch den Eintritt in das Erziehungsheim der Zusammenhang mit dem Elternhaus und der Familie keineswegs grundsätzlich gelöst oder unterbrochen werden soll, sondern tatsächlich durch Briefwechsel und durch gelegentliche wechselseitige Besuche mehr oder minder gewahrt bleibt.

Alles in allem war der aus der kurzen Besichtigung gewonnene Eindruck ein durchaus günstiger, Lehrende und Lernende erschienen gleichermaßen von hohem idealen Streben u. bestem Willen erfüllt und bieten in ihrer derzeitigen Zusammensetzung das Bild einer vorbildlichen Arbeitsgemeinschaft und einer harmonisch verbundenen und sich selbstlos in gegenseitiger Unterstützung und Förderung auswirkenden engen Lebensgemeinschaft. Ob dieser Zustand von Dauer  sein und sich unter allen Umständen auch etwaigen naheliegenden Gefährdungen gegenüber behaupten wird, bleibt freilich in erster Linie von der jeweiligen Leitung der Anstalt sowie davon abhängig, ob es immer gelingen wird, entsprechende Lehrkräfte zu gewinnen und zu halten und den Schülersatz auf der gegenwärtigen Höhe zu halten.

Auch die Frage, ob sich die verfolgten hohen und zum Teil doch immerhin vielleicht etwas utopischen Ziele in Wirklichkeit und überhaupt und auf dem beschrittenen Rahmen in dem Umfang erreichen lassen, wie dies von den Lehrenden und Lernenden erhofft wird, lässt sich vorläufig nicht entscheiden. Es wird dies erst möglich, wenn sich übersehen lässt, wie sich die durch die Anstalt gegangenen Zöglinge dem praktischen Leben gegenüber bewähren und behaupten. Eine offene Frage bleibt ferner, ob und inwieweit sich die Unterrichts- und Erziehungsmethoden bei schulpflichtigen, insbesondere grundschulpflichtigen Kindern bewähren werden, solange noch in dieser Richtung keinerlei Erfahrungen vorliegen.

Schließlich wird die weitere Entwicklung der Anstalt auch wesentlich davon abhängig sein, ob die Möglichkeit gegeben ist, sich auf die Dauer wirtschaftlich zu erhalten, wie dies nach den Anlagen offenbar ins Auge gefasst war, sich durch Aufnahme einer größeren Zahl von Zöglingen auf breiterer Grundlage zu entfalten. Letzteres muss auf der derzeitigen schmalen finanziellen Basis vorläufig zweifelhaft erscheinen.

Diese ist zur Zeit nur in dem durch das in der Inflationszeit erworbene Mühlengrundstück, das 16 Morgen Land umfasst, gegeben und durch zwei in jener Zeit ausgebaute ältere Wohngebäude und den dazu gehörenden ländlichen Nebengebäuden und zwei gleichzeitig errichtete Gebäude und in einem Stiftungskapital, dessen Zinsertrag auf 9600 M beziffert wird. Dazu treten der Ertrag aus dem selbstbewirtschafteten Garten und aus dem teilweise verpachteten Land, ferner die oben erwähnten nicht nennenswerten Beträge, die von nicht ganz mittellosen Zöglingen zu ihrem Lebensunterhalt beigesteuert werden, gelegentliche kleine Zuwendungen von befreundeter Seite, namentlich in Gestalt von Naturalien. Diesen Einnahmen stehen die Kosten für den Lebensunterhalt von mindestens zwanzig Personen und recht erhebliche Ausgaben für die Unterhaltung der Gebäude und des ganzen Anwesens und seiner Einrichtungen gegenüber. Unter diesen Umständen bedeutet ein Betrag von rund 300 Mark Grund- und Grundzinssteuer, der annähernd den Jahresverpflegungskosten für zwei  Zöglinge entspricht, in der Tat eine schwere und äußerst empfindliche Belastung.

Nach dem oben Ausgeführten handelt es sich bei dem Erziehungsheim Walkemühle zwar um einen Versuch, über dessen endgültige Erfolge sich ein abschließendes Urteil bis auf weiteres nicht absehen lässt, andererseits aber um ein sehr bemerkenswertes Unternehmen, das wegen der idealen Bestrebungen, die es verfolgt und auf Grund des gewonnenen Eindrucks verdient, nach Möglichkeit unterstützt zu werden, und  dessen gemeinnütziger Charakter in Anbetracht der Unentgeltlichkeit und des Zwecks, dem es dienen soll, anzuerkennen ist.

Auch wäre, wenn sich die Anstalt zur Deckung der verlangten Steuer in der Tat zur Entlassung !!! zwei der derzeitigen Schüler gezwungen sehe, dies im Interesse der hiervon Betroffenen sehr zu bedauern. Dazu kommt, dass bei einer noch geringeren Zahl von Schülern als der gegenwärtigen, die Lebensfähigkeit der Anstalt in Frage gestellt erscheinen muss, weil eine so beschränkte Schülerzahl den aufzuwendenden Apparat nicht mehr rechtfertigen würde.

Wir glauben, hiernach den Antrag befürworten zu dürfen und möchten empfehlen, sich zugunsten der Anstalt dafür verwenden zu wollen, dass ihr, wenn dies nur irgend angängig ist, wenigstens eine zeitweilige Freistellung oder Steuererleichterung bewilligt wird, ihr Zeit zu lassen und Gelegenheit zu geben, sich als lebensfähig und erfolgreich in ihren Bestrebungen zu erweisen."

(64)

Ein Schüler erzählt ein weiteres Beispiel dafür, wie gering die Mittel waren, die zur Verfügung standen:

"Als der Winter '25 auf '26 anfing streng zu werden, mussten wir alle beim Heizen unserer kleinen Kanonenöfchen auf unseren Zimmern sparen und uns eine Wolldecke oder sonstwas umhängen, denn wir  standen vor der Frage, das hatte Minna Specht uns erklärt: ,Entweder schränken wir uns alle mit der Heizung ein, oder zwei müssen nach Hause.' Wir waren natürlich sofort solidarisch und sagten: ,Wir wollen lieben frieren'." (Helmut Schmalz)

Eine Helferin:

"Wir besaßen alle in der Mühle nur noch die zum Leben nötigen Siebensachen. Es gab auch kein Taschengeld; doch was man brauchte, hat man gekriegt, z.B. das Fahrgeld, wenn einer mal heim wollte, das war kein Problem." (Hedwig Urbann)

Ein Schüler hatte die Verantwortung für die Kasse in der Walkemühle übernommen und berichtet darüber:

"In den zwei Jahren, in denen ich die Kasse führte (nach 1930), bewegte sich die Kassenführung jeden Monat um die 7000 Mark herum, mit allem drum und dran für achtzig Menschen auf der Walkemühle: Kleidung, die für alle in unserer Schneiderei selber instand hielten, die Kosten für die Fahrten, das Gehalt für den Gärtner und das Geld für die Lebensmittel, die wir nicht selber im Garten hatten:  Erdnüsse, Eier, usw..

Wenn wir irgendwo eine Spende herkriegten, wurde das Geld dann woanders geführt, in unserer sogenannten Luxuskasse. Von dem Geld gingen wir im Monat mindestens zweimal nach Kassel ins Theater. Wir haben dann aber die billigsten Preise genommen und oben auf der Treppe gesessen, anders konnte man sich das gar nicht leisten. Wenn jemand sich im Foyer dann noch ein bisschen kaufen wollte, kriegte er seinen Fünfziger, mehr hatten wir aber nicht in der Tasche. Wir hatten ja überhaupt kein eigenes  Geld und haben uns glücklich gefühlt. Man sagte sich: Man muss die Zeit durchstehen und versuchen, so billig wie nur irgend möglich herumzukommen, damit recht viele durch diese Schule hindurchgehen können." (Willi Warnke)

Aus pädagogischen und finanziellen Gründen war die Walkemühle in fast jeder Hinsicht Selbstversorger, autark. Aber auch aus politischen Gründen war eine bestimmte Unabhängigkeit und Selbständigkeit erforderlich. Es gab Werkstätten für fast alle Arbeiten, eine eigene Gärtnerei, Sicherungen gegen Übergriffe durch die SA, eine eigene Stromversorgung und eigene Transportmittel, Fahrräder.

Ein Helfer:

"Nelson hatte immer gesagt: ,Das Transportmittel ist das Fahrrad.'  Wir hatten in der Walkemühle 25 Fahrräder, unsere ,Kommuneräder'. Größtenteils waren die meisten jedoch nicht fahrbar, obwohl eigentlich alle gemeinsam die Räder in Ordnung halten sollten, nur die schlimmsten machte ich dann in der Schlosserei. Manchmal ist es vorgekommen, wenn jemand schnell nach Melsungen hin wollte, kam der dann zu mir gelaufen: ,Mensch Willi, borg mir schnell dein Rad!', denn ich hatte mein eigenes Rad mit auf die Walkemühle gebracht, es aber nie in diese ,Kommune' eingruppiert; das stand immer in der Schlosserei und es war tatsächlich manchmal das einzige Rad, das funktionierte. Wir haben darüber gesprochen und gesagt: ,Das ist der beste Beweis gegen den Kommunismus, das funktioniert einfach nicht.' "  (Willi Warnke)

Eine Schülerin dazu:

"Das mit den Fahrrädern haben wir sehr ausgiebig diskutiert: Gemeinschaftsbesitz und Individualbesitz. Das liegt in der menschlichen Natur, dass, wenn er selber etwas besitzt, wenn er nicht gerade schlampig ist, er das mehr pflegt, als wenn es einer Gemeinschaft gehört, wo jeder es gebrauchen kann. Es war tatsächlich so, die Gemeinschaftsräder waren nicht so in Schuss, als wenn jeder sein eigenes gehabt hätte, und der Leidtragende war dann der, der sie zum Schluss reparieren musste, der Schlosser."  (Emmi Gleinig)

 

Die Stromversorgung

Ein Helfer:

"Der Ludwig Wunder, mit dem das ja alles in der Walkemühle angefangen hatte, muss in mancher Hinsicht ein eigenartiger Kauz gewesen sein. Er tat bestimmt viel für die Landbevölkerung, was die interessierte, aber dann leistete er sich auch mit der Anschaffung der Turbinen einen hanebüchenen Blödsinn. Er glaubt also, dass er mit zwei lächerlichen Turbinen Adelshausen und das halbe Pfieffetal mit Strom versorgen könnte.

 

Stromerzeugung

Wasserfall an der Turbine  

Die eine Turbine leistete dann endlich 16 PS, die andere war eine sogenannte Hochwasserturbine mit 2000 l/sec Durchgang, lief also nur selten im Jahr; sogar wir brauchten nachher für manche Zeiten zur zusätzlichen Stromerzeugung noch einen Dieselmotor.

Hinten über der Turbinenwelle war noch eine Kammer, da standen die Fettfässer und Schmierstoffe, da wollte Wunder zuerst noch Akkus aufstellen, den Strom in Zeiten geringen Bedarfs speichern, um ihn dann bei höherem Bedarf wieder abgeben zu können. Und neben dieser Anlage, unten im riesengroßen Akademiegebäude, habe ich dann fast drei Jahre mutterseelenallein gehaust. Technisch war das zwar sehr interessant, doch das hat mich Nerven gekostet!"  (Willi Schaper)

Ein anderer Helfer:

"Ich hatte als Schlosser auf der Walkemühle die Verpflichtung übernommen, mich um die gesamte elektrische Anlage zu kümmern, um die Schlosserei zu kümmern und um die Heizung - die war 1928 verlegt worden, und in jedem Gebäude gab es nun einen Heizkessel, für dessen Bedienung ein oder zwei Schüler  verantwortlich waren - wo ich als Schlosser die Oberaufsicht hatte." (Willi Warnke)

 

Schutz vor Übergriffen der SA

Ein Helfer:

"Wir hatten unser eigenes Wasserwerk. Da musste ich nun auch noch dafür sorgen, dass uns da niemand das Wasser vergiftete. Das wäre doch eine Kleinigkeit gewesen, aber ich habe sie alle aufs Kreuz gelegt. Ich bin hergekommen und habe den alten Mathias Schwer genommen, den Gärtner, und habe gesagt: ,Mathias guck mal, hier müsste eigentlich Wasser sein, hier neben der Schlosserei', spricht er: ,Wie kommst du denn darauf?', ich sagte: ,Los, jetzt wird hier geschlagen, hier muss Wasser sein.' Dann haben wir geschlagen, und haben Wasser gehabt, das haben wir dann untersuchen lassen, es war in Ordnung.

Eigentlich hatten wir ja einen Behälter oben am Berge. Wenn der voll war, dann lief das Wasser über, und so konnte jeder Bürger, der ein bisschen helle war, sehen, dass da unser Behälter war. Die Leitung, die vom Berge kam, wurde jetzt aber abgeklemmt und der neue Brunnen an die Leitung angeschlossen. Die Leute glaubten so immer noch: Die kriegen es da oben vom Berge." (Willi Warnke)

Ein anderer Helfer berichtet, dass solche Maßnahmen nicht unbegründet waren:

"Wenn die SA an der Walkemühle vorbeifuhr, schossen die manchmal in die Luft, aber hereingetraut haben die sich nicht, die wären auch richtig empfangen worden, denn wir hatten uns etliche Pistolen angeschafft." (Willi Schaper)

Der Helfer, der den neuen Brunnen angelegt hat, berichtet weiter:

"Wir durften natürlich nicht bewaffnet sein, aber wir waren es. Also, wenn da jemand in der Nacht gekommen wäre, womit wir rechneten, dann hätte es eine schöne Ballerei gegeben. Wir hatten einige Pistolen. Ich war lange dafür verantwortlich, darum weiß ich das.

Zur Sicherung hatten wir auch noch eine Alarmanlage mit Stolperdrähten, eine Ruhestromanlage, die funktionierte einwandfrei. Auch wenn da jemand die Drähte durchgeschnitten hätte, hätte es überall geschellt. Wir rechneten je mit allem, denn die SA fuhr oft vorbei und schoss dabei in die Luft."  (Willi Warnke)

 

Die Gärtnerei

Ein Helfer:

"Alles Gemüse wurde prinzipiell selbst angebaut, es gehörte ja viel Land zur Walkemühle. Diese Arbeit leistete Onkel Schwer, ein Gärtnermeister aus Melsungen. Im Sommer waren wir dann manchmal einen halben Tag, je nachdem, wie es erforderlich war, in seinen Gemüseplantagen." (Willi Schaper)

Die Schüler, Erwachsene wie Kinder, beteiligten sich je nach ihren Fähigkeiten an den Arbeiten in Haus, Küche, Werkstätten und Garten. Als Fachleute waren die Helfer für diese Arbeiten verantwortlich, die dann selbst in der so für sie freigewordenen Zeit an einigen Unterrichtsveranstaltungen, am Sport und an den Fahrten teilnehmen konnten. (66)

Ein Helfer über die Schneiderei:

"Dann gab es noch unsere große Nähstube, wo fast unsere gesamte Kleidung gemacht wurde. Die Schneiderin dort kam aus Berlin, Käthe Wengler, die konnte man auch mal um Rat fragen, wenn etwas kaputtgegangen war, und wenn die dann gute Laune hatte, dann kam sie her und sprach: ,Komm lass es hier, ich mach's dir'; und wenn die keine gute Laune hatte, dann sprach sie : ,Mensch, das kannst du nicht? Streng dich mal ein bisschen an!' " (Willi Warnke)

 

Kleidung,

die auf der Walkemühle getragen wurde.

Es war natürlich der Einfluss der Jugendbewegung deutlich sichtbar, doch in der Walkemühle wurde darüber hinaus die Kleidung noch besonders schlicht und einfach gehalten - um Geld zu sparen und um alle Kräfte auf die Ausbildung konzentrieren zu können.

Eine Helferin berichtet dazu eine Episode:

"Tolle hatte mal ein Kleid, auf dessen Rücken eine lange Reihe Knöpfe herunterlief. Nelson soll dazu mal gesagt haben: ,Was sollen denn die vielen Knöpfe da, das ist doch wirklich unnötig, die Wirbelsäule so zu verzieren.' Tolle soll darauf sehr verärgert gewesen sein und gesagt haben: ,Wenn sie weggeschnitten werden, nähe ich sie wieder an'. " (Hedwig Urbann)

Ein Schüler über die Kleidung von 1925:

"Viele Klamotten hatten wir ja nicht. Im Sommer gingen wir Jungen in kurzen Hosen, die waren aus stabilem Manchesterstoff und hielten unglaublich lange. Im Winter trug man das, was man damals Bridgeshosen nannte. Meine Mutter strickte mir dazu immer die Wadenstrümpfe. Oben trug man im Sommer einen Fahrtenkittel, die gab es in verschiedenen Farben, und die gingen über die Hose, waren vorne zugeschnürt und besaßen um die Taille eine Kordel. Dann hatten die Fahrtenkittel einen Schillerkragen, das war die Erfindung der Freideutschen Jugend, vordem gab es das ja noch nicht, vordem hatte man ja noch den Stehkragen, wie ihn Herr Schacht noch zwanzig Jahre später trug, bis ganz oben rauf und dann die Ecken umgelegt. Das wurde dann in der Jugendbewegung über Bord geworfen, und diese Auflockerung der Kleidung fand großen Anklang und brachte der frei-deutschen Jugend viel Zulauf. Das wurde aber nicht nur in den Jugendverbänden so getragen, auch die Sozialistische Arbeiterjugend ging so.

Für feierliche Gelegenheiten hatte man dann einen schneeweißen Kittel, der besonders peinlich gewaschen worden war, das sah sehr gut aus. Die Mädchen trugen dann ihre langen Kleider mit den Holzklunkern und Sandalen. Das war ein fröhliches Bild, wenn damals junge Menschen zusammenkamen." (Helmut Schmalz)

Eine Schülerin:

"Wir trugen damals Reformkleider mit den angesetzten Rücken, Goldreifen und Zöpfen - in der Romantik blühen die Rosen." (Emmi Gleinig)

Doch in der Walkemühle trug man dann schon keine Zöpfe mehr, dort wurden die Haare kurz geschnitten.

Eine Schülerin:

"Unter den Erwachsenen auf der Walkemühle war nur eine einzige, nämlich die Gärtnerin, die trug einen langen, dicken Zopf und war nicht dazu zu kriegen, ihn abzuschneiden, wir haben sie immer gefoppt. Wir anderen Frauen trugen alle kurze Haare, wie sie dann auch in der Jugendbewegung aufkamen. Nicht so wie Jungen, sondern hier und da einen Kamm gesteckt, damit das ordentlich aussah, aber kurz im Nacken. Als Politiker haben wir uns gedacht: Wir wollen auch keine lange Zeit verschwenden, uns zurechtzumachen. Alle drei, vier Wochen kam ein Friseur, es wurde dann aufgeschrieben, wer wollte, und immer hieß es: ,Hilde, dich doch auch', und gerade bei der Gartenarbeit war das doch sehr unpraktisch." (Grete Mayr-Eichenberg)

Einem Schüler fällt auch Minna Spechts Kleidung ein:

"Sie hatte so ein schönes Kleid, das nannten wir das ,Delfter Kleid'. Wenn wir irgendwo hingingen, sagten wir: ,Minna, zieh aber dein Delfter Kleid an.' Auch sonst war sie einen Tick feiner angezogen, als die anderen Mädchen. Wir trugen es ja betont einfach, und sie hatte ja auch gelegentlich mit Behörden zu tun. Sie hatte damals schon graue Haare, so im Herrenhaarschnitt geschnitten, natürlich gewellt, das machte einen sehr guten Eindruck, ja, wir waren alle ein klein bisschen verliebt in sie." (Helmut Schmalz)

Wie man sich in der Kleidung von dem, was sonst üblich war, unterschied, wurde in Gesprächen deutlich.

Ein Kind weigerte sich zu Hause, als es wieder eingeschult wurde, ein Kleid zu tragen mit einer dicken Schleife hinten, was damals hochmodern war.

"Einfachheit war ein wichtiges Erziehungsprinzip," meint Emmi Gleinig dazu, wohl etwa das, was heute die Jeans sind, "aber es tut mir leid, dass das bisschen Romantik, dass das alles weg ist. In der Heide mit dem Ginster; dann erschienen eines Abends die Geister, wenn es dunkel wurde, die Lagerfeuer, das war alles sehr schön." (Emmi Gleinig)

Und dann gab es ,Konflikte', gerade auch um dieses Alltägliche, wie Kleidung, Haare oder das Zusammenarbeiten. Die Energien, die auf solche Konflikte verwandt wurden, ließen diese Situationen plastisch im Gedächtnis haften.

"Minna Specht war in Göttingen bei Nelson gewesen, um mit ihm schulische Probleme zu besprechen, und sie kam zurück mit Haarbürsten, solche mit Stahlborsten, die in einem Gummibalg steckten. Die waren damals gerade aufgekommen. Minna brachte so sechs Stück mit, als neue Errungenschaft für die Walkemühle, und sagte: ,Ich habe hier Haarbürsten mitgebracht, und derjenige, der stumpfes, glanz-loses Haar von euch hat, soll sich melden, der kriegt eine.'

Eines Morgens ging Minna durch die Küche - sie hatte ja überall ihre Augen - und fragte Lisbeth Katholi, die auch zufällig in der Küche war: ,Wie ist es mit dir, Lisbeth, hast du eigentlich eine Haarbürste ?', und Lisbeth sagte: ,Ja'.  Lisbeth hatte ein Zimmer neben mir, - Riesenzimmer waren das in dem alten Fachwerkbau - sie schlief vorne, und ich hatte das hintere Zimmer und musste also immer durch ihr Zimmer hindurch.

Ich hatte nie eine Bürste bei ihr gesehen. Minna geht raus, und ich sage zu Lisbeth:: ,Lisbeth, hast du eine Bürste ?  Ich habe nie eine Bürste bei dir gesehen!', da sagt sie: ,Nee, habe ich auch nicht', sage ich: ,Wie kannst du denn sagen, du hast eine, du hast doch Minna angelogen', ich sage, ,das finde ich aber nicht richtig, wenn du keine Bürste hast, kannst du doch ohne weiteres sagen, du hast keine, das wäre doch kein Verbrechen gewesen', da sagt sie: ,Ja, als ich die Hedwig daneben sah, mit ihren großen, vorwurfsvollen schwarzen Augen, da habe ich mich so aufgeregt, da habe ich aus Protest gegen diese schwarzen Augen einfach gesagt: ,Ich habe eine.'

Das richtete sich also im Grunde gegen Hedwig, die war immer gleich so moralisch und so vorwurfsvoll, die hat das bewirkt, dass Lisbeth also gelogen hat, und da habe ich gesagt: ,Das kannst du doch nicht einfach auf dir sitzen lassen, das geht nicht', da sagt sie: ,"Ja, was soll ich denn machen ?', ich sage: ,Wenn du willst, helfe ich dir', ich sage,  ,ich werde mit Minna sprechen und ihr erklären, wieso und warum du gelogen hast', dann sagt sie - nach einigem Zögern: ,Na ja, wenn du das willst, mir ist das ja auch nicht angenehm, wenn ich das immer mit mir herumtrage'. Ich habe dann Minna mal den Weg verstellt und gefragt: ,Du, kann ich dich mal sprechen?' Ich hatte ja auch immer Hemmungen, uns gegenüber erschien sie ja so groß. Sie sagte dann: ,Ja, komm mal heute Abend auf mein Zimmer.'  Ich gehe rauf und sage: ,Ich kann dir aber nur was sagen, wenn du keinen Vorwurf erhebst gegenüber dem Betroffenen, um den es sich handelt. Wenn du mir das nicht versprechen kannst, sage ich dir nichts.' Da sagt sie: ,Selbstverständlich'.

Dann habe ich ihr das erzählt. Sie hat sofort verstanden, solch ein Einfühlungsvermögen konnte man ja auch erwarten als Pädagoge, und dann sagt sie: ,Schick sie nur herauf,' ich mit fliehenden Fahnen in die Küche herunter und sage: ,Geh nur herauf, es geht alles in Ordnung.' Dann ist sie rauf, mit klopfendem Herzen und Kloß in der Kehle, und die Minna hat sie empfangen - kein Vorwurf, sie hat sie in die Arme genommen und hat dann irgendwas Nettes gesagt. Lisbeth kam also runter mit strahlenden Augen. Uns so war die Sache bereinigt.

Das war ein Konflikt, dann gab es noch einen Konflikt mit meinen Schuhen, so gab es laufend Konflikte. Der Konflikt mit den Schuhen: Ich hatte mir mühsam ein Paar schwarze Lackschuhe zusammengespart, Reformschuhe, und in der Walkemühle war es wie überall damals aus Sparsamkeitsgründen üblich, die Schuhe zu nageln, Nägel mit großen Köpfen in die Sohle zu schlagen, damit diese sich nicht so schnell ablaufen.

Ich hatte mir meine Schuhe vom Munde abgespart und wusste, was mit diesen Schuhen passierte, wenn  man sie nagelte - mein Vater war ja Schuhmacher - die Brandsohle wäre hin gewesen.

Betti hatte die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Schuhe genagelt wurden und ließ sich nicht davon abbringen: ,Das ist die Regel hier, die Schuhe müssen genagelt werden.' Dann kam Minna, die sagte: ,Du willst deine Schuhe nicht nageln lassen?' Ich sagte: ,Nein, ich habe auch einen Grund dafür. Diese Schuhe habe ich mir vom Munde abgespart, und ich weiß, wie ein Schuh aussieht, mein Vater hat selbst in Handarbeit die Schuhe für mich gemacht, und ich weiß, wenn dieser Schuh genagelt wird, dann ist er hin, dann kann man ihn wegwerfen.'  Minna sah das ein und sagte: ,Na gut, dann werden diese nicht genagelt, dann kriegst du ein Paar Sandalen,' ein Paar Jesuslatschen, so mit einem Riemen darüber, ich sagte: ,Das ist mir hundertmal egal, da kannst du dreifach Nägel darunter schlagen, aber meine Schuhe kriegst du nicht!' So wurde das gemacht. Minna sah also ein, dass man unter diese Schuhe nicht solche Nägel schlagen konnte.

Ich habe viel, viel gekämpft, genau wie auch einige andere."  (Emmi Gleinig)

 

Ein weiterer Konflikt

"Das Waschen habe ich als Helferin organisiert.

Alle drei Wochen machten wir das, und da halfen uns immer zwei, entweder von den Schülern oder Lehrern, oder von denen, die in den Werkstätten waren. An einem Nachmittag wurde zusammen eingeweicht, und am nächsten Morgen fing man dann in der Waschküche an, stellte die Maschinen an und machte Feuer unter dem Kessel, damit das Wasser heiß wurde. Die zwei mussten dann helfen, tun, was man gesagt hat: ,Also los, fangt mal an und wascht mal die Strümpfe,' oder ,stellt jetzt die Waschmaschinen an'.

Wenn der Riemen kaputt war, oder herunterfiel - die Waschmaschinen und die Schleuder wurden ja von Transmissionswellen angetrieben - dann musste jemand rüber in die Schlosserwerkstatt, denn wir durften da nicht ran. Wir wollten sichergehen, und niemand sollte sich gefährden. Dann bin ich einmal rüber in die Schlosserei und habe gesagt: ,Bitte komm rüber, der Riemen ist heruntergefallen.' Viertelstunde, halbe Stunde, dreiviertel Stunde, und der aus der Schlosserei war ja sowieso mit dem Helfen beim Waschen dran. Ich ging noch mal rüber und sagte er solle kommen, wir könnten sonst nicht weitermachen. - Nichts. - Dann habe ich mal mit Minna Specht gesprochen und dann kam er endlich: ,Ja, ich mach' das mal gerade.'  ,Halt,' sagte ich, ,du darfst den Riemen nicht drauf machen, du bist jetzt hier zur Wäsche. Geh rüber und sag dem Schlosser, er soll kommen und den Riemen drauf machen.' ,Ja, das kann ich aber doch viel schneller.' Ich sagte: ,Nein, nein, du bist zur Wäsche hier, nur zur Wäsche.'  Also, er bibberte, ich freute mich. Er machte die Erfahrung jetzt selbst, was es heißt, jemanden zu brauchen, der einem den Riemen draufmacht.

Das Resultat war: Niemals mehr, solange der da war, brauchte man auf den zu warten, wenn der Riemen runter war.

Das sind so die kleinen Sachen, die man aus der Erfahrung lernt.

Aber Streitereien gab es bei uns eigentlich nicht. Wir glaubten ja an die Vernunft. Man sagte dann: ,Hört mal zu, überlegt euch mal, was ihr sagt und was ihr tut.' Da kann ein Dritter durch ein paar ruhige Worte viel helfen."  (Hedwig Urbann)

 

Sexuelle Enthaltsamkeit

Und mit eben dieser Vernunft wurden auch die sexuellen Konflikte behandelt. Das enge Zusammenleben und die Regel "strengster Enthaltsamkeit" führte wohl für die meisten zu Schwierigkeiten, die auch nie offen besprochen wurden. In den Geschichten, die mir erzählt wurden, ist es besonders der leise Unterton, der beschreibt:

"René sagte einmal: ,Zwei Jahre mache ich das, ohne Zigaretten und Frau.' "(Emmi Gleinig)

"Zwischen männlichen und weiblichen Schulmitgliedern galt strengste Enthaltung. Das war so selbstverständlich, dass es nie diskutiert worden ist. Das war ja auch alles von Nelson vorgeschrieben. Die ganzen erotischen Verwicklungen haben ja natürlich ein Element des Unberechenbaren, und das passte in diese rational auf Durchführung einer Aufgabe geplante Schule nicht hinein.

Nicht dass Nelson persönlich eine große Distanz zu Frauen gehabt hätte; er war sehr an Frauen interessiert." (Gustav Heckmann)

"Ich kann in aller Ruhe sagen, Beziehungen zwischen Männern und Frauen waren verboten, und wenn es bekannt wurde, dann wurde man von der Mühle verwiesen. Die Regel haben wir uns selber gegeben, um der Deutlichkeit halber, um in der Bevölkerung nicht die Rederei entstehen zu lassen: Mensch, das ist ein Puff, denn wir waren mehr weibliche Wesen als männliche Wesen auf der Walkemühle.

Es wurde auch rigoros verfahren. Wenn irgendwas bekannt wurde, musste derjenige die Mühle verlassen. Aus meiner Zeit kenne ich einen einzigen Fall: Da gab es noch nicht einmal Spannungen, ich sah den morgens früh mit Gepäck aus dem Gebäude kommen, wo unsere Koffer gestapelt waren. Ich sprach: ,Was ist denn mir dir los, wo willst du denn hin?' Er sprach: ,Ich fahre heim.'  Zack, weg war er. Da hat auch keiner mehr gefragt weshalb. Aber wir haben uns auch in dieser Beziehung alle schwer am Riemen gerissen und in der Gewalt gehabt."  (Willi Warnke)

"Die sexuelle Frage war für uns tabu, völlig ausgeklammert, sie wurde einfach totgeschwiegen, es war selbstverständlich. Ich hab eine gute Nase und gute Ohren. Zwischen denen, wo was war, gab es bestimmt keine sexuellen Beziehungen. Wir lebten so dicht beieinander, da merkt man das ja. Der eine hatte zu dem anderen etwas nähere Beziehungen, wie zur Gesamtheit, da war aber alles platonisch." (Helmut Schmalz)

"Einige haben die strengen Forderungen dann nicht durchgestanden. Bei einer Exkursion auf das Land ist ein Junge auf dem Bauernhof geblieben und hat die Tochter des Bauern geheiratet." (Emmi Gleinig)

Diese Begebenheit hat sich als Gerücht erwiesen, aber Bestehen und Wachsen dieses Gerüchts sind möglicherweise auch Ausdruck der Gefühle und Phantasien, die man unter den strengen Bedingungen hatte. Ein Helfer stellte die tatsächliche Begebenheit dar:

"Der dort Genannte ist nicht wegen der Tochter des Bauern wieder in das Dorf gegangen, hat sie auch nicht geheiratet. Ich war und bin sehr mit ihm befreundet und konnte auch erst vor einigen Jahren diesen allgemein verbreiteten Irrtum aufklären. Er wollte Bauer werden und hat dort eine abgeschlossene Lehre als Landwirt absolviert." (Willi Schaper)

Eine Mitarbeiterin Nelsons:

"Die Frage der persönlichen Bindungen wurde als Hindernis für politische Arbeit angesehen. Ehepaare und gemütliche Kinderstubenatmosphäre gab es nicht. Wir hatten gesehen, wohin das führt.

Es gab Leute in der Umgebung, die konnten sich das gar nicht vorstellen, dass im Dämmerlicht nicht genau das Gegenteil von dem getan wurde, was wir öffentlich vertraten. Es gab sicher auch junge Leute, die verliebt ineinander waren, die dem aber nicht nachgegeben haben. Die Schule war frei von Heuchlern. Manchen wurde es dann auch zu schwer, die verließen dann die Walkemühle wieder und heirateten draußen.

Alles Tun in der Walkemühle stand in Verbindung mit dem Erwerb von Fähigkeiten für die politische Auseinandersetzung draußen, fähig zu werden, den drohenden Nazismus abzuwenden. Hitlers Buch ,Mein Kampf'  war uns bekannt, wo ja schon genau drin stand, was alles mit den Juden geschehen sollte." (Nora Platiel)

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