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Die Walkemühle
Landerziehungsheim von (1921-1933)
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5 Der Anfang

1921 kaufte der Oberlehrer Ludwig Wunder die Walkemühle bei Melsungen, um dort ein Landerziehungsheim zu errichten. In den Jahren davor hatte die Mühle mehrmals den Besitzer gewechselt. Ein Tuchfabrikant hatte 1899 die Mühle, in der eine kleine Woll- und Tuchspinnerei war, wegen der dort vorhandenen Heeresaufträge gekauft. Diese Aufträge sowie sämtliche Maschinen übernahm er in seinen Betrieb in Fulda und legte die Walkemühle selbst still. Dreißig Menschen verloren dadurch ihren Arbeitsplatz.

Aus der Zeit der Tuchfabrik gibt es Erinnerungen eines Lehrlings, die er 1958, inzwischen 83jährig, erzählt hat. Er schildert den Produktionsprozess einer Walkemühle: "Von den Webstühlen kamen die Stoffe in die Walke.  Hier wurden sie mit Seifen- und Sodawasser geknetet und durchgearbeitet, wodurch eine Verdichtung oder Verfilzung des Tuches erreicht wurde. Dann wurden die Stücke auf feste Rahmen zum Trocknen gespannt." (2)

Die folgenden Besitzer benutzen die Mühle jeweils nur für einige Jahre als Sägewerk mit Stellmacherei oder als Betrieb zur Fertigung von Handwagen.

Am 15. Mai 1921 zog dann Ludwig Wunder als neuer Besitzer in die Walkemühle ein.

Der Komplex der Mühle umfasste etwa 25.000 Quadratmeter Land, durch das ein größerer Bach fließt, die Pfiffe, deren Wasser die Mühlräder antrieb. Ebenfalls mitten durch das Grundstück führte die Straße von Melsungen in das nahe an der Mühle gelegene Dorf Adelshausen. Es gab mehrere Gebäude beiderseits der Straße, meist alte Fachwerkhäuser, deren eines Wunder gleich nach dem Kauf abreißen und an der gleichen Stelle einen Neubau errichten ließ.

Im Dorf Adelshausen wurde die Veränderung auf der Walkemühle mit Interesse verfolgt: "Zuerst hat man sich gar nichts dabei gedacht. Da kam einer hier an, der trug kurze Hosen - das war doch damals gar keine Mode. Der hat die Walkemühle dann gekauft, obwohl das eine Ruine war. Dann hat sich alles gewundert, dass dort gebaut wurde. In der Inflation, da hatte doch gar keiner Geld! Wenn man als Lehrjunge damals mit seinem Geld nicht in die erste Wirtschaft gegangen ist, war es in der zweiten schon nichts mehr wert. Der Wunder hat Dollars aus Amerika gehabt, hieß es. Aber keiner wusste zuerst, was das werden sollte. Und dann wussten wir gar nicht, was uns geschah, dass der sich mit uns unterhalten hat. Als ein Raum in seinem Neubau fertig war, hat er schon mit der ganzen Jugend Kurse gemacht.

Wir sind jede Woche für einige Abende da runter gegangen. Wir waren alle sehr interessiert, und für uns war das ein Glück, weil wir wegen dem Krieg so wenig Schule gehabt hatten, und auch nach dem Krieg fehlten noch die Lehrer. Unterricht hatten wir nur zwei Tage in der Woche, und selbst da mussten wir noch mehr Brennnesseln und Laubholz sammeln als sonst was. Alles fürs Militär. Aus Brennnesseln wurden Stoffe hergestellt, und Laubholz bekamen deren Pferde.

Die Walkemühle war ja gegen den Militarismus.

Wir haben uns noch viel angeeignet da unten.  Auch die Älteren sind abends mit in die Schule gegangen. Was die uns da gezeigt haben, das konnten wir in der Volksschule gar nicht sehen. Im Unterricht wurde alles besprochen, beim einfachen Rechnen angefangen. Der Wunder hat uns immer schön unterrichtet, dass wir manchmal gedacht haben: ,Ist der noch dümmer als wir?' Und wenn wir dann heimgegangen sind, haben wir gemerkt, dass wir doch was gelernt hatten." (Johann Eckhardt und Justus Eckhardt)

Und eine Helferin erinnert sich noch,  dass  Wunder - er war Physiker und hatte unter dem Namen "Herr Wunderlich"  schon in Zeitschriften veröffentlicht (3) - in dem Physikzimmer, wenn die Jungsozialisten aus Melsungen oder Jugendliche aus Adelshausen kamen, Experimente gemacht hat: "Und plötzlich macht es pfffft, und dann kam irgendwo eine Flamme heraus." (Hedwig Urbann)

Was Wunder in der Walkemühle anfing, stand im Zusammenhang mit der Landschulheimbewegung in Deutschland, hauptsächlich ins Leben gerufen von Hermann Lietz, der selbst 1894 vier Heime gegründet hatte. Politisch konservativ und dem damaligen deutschen Reich gegenüber wohlwollend eingestellt, wollte er in seinen Heimen freie und starke Menschen erziehen; wahrscheinlich waren sie für eben dieses deutsche Reich als Gestalter und Führer gedacht.(4) Insgesamt sind seine Erziehungsziele jedoch nicht nur dieser Absicht zuzuordnen: "Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit, sondern Charakterbildung; nicht alleinige Ausbildung des Verstandes und Gedächtnisses, sondern Entwicklung aller Seiten, aller Kräfte, Sinne, Organe, Glieder und guten Triebe der kindlichen Natur zu einer möglichst harmonischen Persönlichkeit; nicht Lesen, Schreiben, Griechisch, sondern Leben lehren." (5)  Auch waren die Schüler den Lehrern nicht mehr untergeordnet, sondern sollten mit ihnen auf gleicher Stufe stehen. Es wurde von der Autonomie der Persönlichkeit des Kindes ausgegangen: "Wenn es auf seiner Ebene das ist, was es sein kann, dann muss man ihm die gleichen Rechte einräumen, die man für sich selbst in Anspruch nimmt." (6)

Ludwig Wunder hatte selbst seit 1908 in Bieberstein eines der Landerziehungsheime geleitet. Als Lietz 1919 an den Folgen einer Verletzung starb, die er sich als Kriegsfreiwilliger zugezogen hatte, übernahm Wunder dessen Leitung im Landerziehungsheim in Haubinda, obwohl er sich schon früher mit Lietz verkracht hatte. Wunders Vorstellungen "über Selbstregierung und Freiheit der Jugend"(7) waren Lietz zu weit gegangen.

In Haubinda hörte Wunder jedoch nach kurzer Zeit wieder auf und begann im Mai 1921, mit der Walkemühle sein eigenes Landerziehungsheim aufzubauen. Bereits im Oktober wohnten zehn Schüler in diesem Heim, mit denen er den Unterricht begann.

Wunder lernte den Göttinger Philosophie-Professor Leonard Nelson kennen; schon in Haubinda hatte ihn die dortige Mathematiklehrerin Minna Specht auf Nelson aufmerksam gemacht. In seinem Lebenslauf, den Wunder später beim Regierungspräsidenten in Kassel einreichte, als es um die Anerkennung als Versuchsschule geht, schreibt er selbst: "1922 und 1923 besuchte ich die Vorlesungen des Philosophen der Universität Göttingen, Prof. Nelson, über die Kant'sche und Fries'sche Philosophie. Ich erkannte in den Lehren dieser Philosophen, namentlich im transzendentalen Idealismus Kants, diejenige Weltanschauung, welcher ich von nun an mit allen Kräften dienen will, um den überall in der Welt herrschenden Fatalismus, Materialismus und Naturalismus zu bekämpfen. Ich habe daher mich und meine Arbeit dem Wiedererwecker dieser Philosophie, dem Philosophen Nelson untergeordnet." (8)

Nelson verfolgte die Entwicklung der Landerziehungsheime mit Interesse. Er hatte Lietz bereits 1907 in Bieberstein in der Rhön kennen gelernt und war begeistert: "Es ist wundervoll hier, und ich bedaure, nicht noch mal in die Schule gehen zu können. Ich habe verschiedenem Unterricht beigewohnt, auch dem Religionsunterricht von Lietz, der ganz famos ist. Die Jungen sind alle so groß und gesund und lustig und tätig, dass es eine Freude ist, die Gesichter und Körper zu beobachten. Alle gehen mit nackten Beinen und leben ganz in der Natur. Lehrer und Schüler sind ganz gleichartig. Es ist alles buchstäblich so in Wirklichkeit, wie ich es mir geträumt habe." (9)

Landerziehungsheime entstanden in der Epoche der streng autoritären, wilhelminischen Erziehung.  In Deutschland betrachtete man die Kadettenanstalten als Vorbild für die männliche Erziehung (von der ,weiblichen' Erziehung zu reden, hielt man damals noch nicht für nötig), dabei wurde die unbedingte Überlegenheit des Lehrers und sein Abstand zu den Schülern als unverzichtbar angesehen. Nelson verwarf dieses Erziehungssystem der "Methode der äußeren Disziplin" radikal, da, "je mächtiger der Staat wird und je tiefer er durch seine Massenorganisationen in das Leben der einzelnen eingreift, wir desto dringender solcher Einrichtungen bedürfen, die die ohnehin schwachen und furchtsamen Menschenherzen stärken und stählen, damit sie nicht zu elenden Werkzeugen im Dienst einer seelenlosen Staatsmaschine werden." (10)

In einem Aufsatz schlug er dementsprechend folgendes vor: "Als mich kurz nach der Revolution der damalige preußische Kultusminister Haenisch um Rat fragte, was er angesichts der trostlosen Finanzlage tun könne, um die notwendigen Reformen des Bildungswesens durchzuführen, schlug ich ihm vor,  sämtliche  Schulen  im  Lande  ( von der  Volksschule  bis  zur  Universität )  zu schließen.  Durch diese einfache Maßnahme würde er, statt die Staatskasse mit neuen Aufwendungen zu belasten, im Gegenteil enorme Geldmittel für sie freimachen und zugleich einen Aufschwung des Geisteslebens herbeiführen, der seinem Namen in der Geschichte Unsterblichkeit sichern würde." (11)

Nelson hatte die Absicht, selbst eine Schule zu gründen, wo Menschen, abgeschirmt von den vielen äußeren Einflüssen, die leicht die Erziehungsarbeit wieder zunichte machen können, zu Willensstärke und Verstandeskraft erzogen werden sollten. Das sollte sie in die Lage versetzen, ihren inneren Überzeugung entsprechend handeln zu können, sich nicht mehr von außen bestimmen zu lassen und stumpfsinnig Autoritäten zu folgen.

Die Gründung einer eigenen Schule sollte hauptsächlich der Schulungsarbeit im Internationalen Jugendbund (IJB) dienen. Dieser Bund, den Nelson selbst leitete, war von ihm 1917 gegründet worden, um seine philosophisch-politischen Ideen zu verwirklichen. (12)

Seine ganze Kraft legte er darein, eine Gesellschaft zu errichten, die nach den Prinzipien des Rechts aufgebaut sein sollte, welche er in seinen philosophischen Theorien entwickelt hatte. Der Grundgedanke dieser Theorie lässt sich getreu dem Kategorischen Imperativ Kants - stark vereinfacht - mithilfe des folgenden alten Sprichworts beschreiben: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!" In gegenseitiger Beschränkung der Freiheit des einzelnen soll das Recht des einen die Pflicht des anderen bestimmen.

Gerechtigkeit bedeutet nach Nelson auch das Prinzip persönlicher Gleichheit; dies galt auch für das Eigentum. Jeder sollte die gleiche Möglichkeit zur Befriedigung seiner Bedürfnisse besitzen.  Seine Vorstellungen bezeichnete er selbst als "liberalen Sozialismus".

Diesen Staat des Rechts zu schaffen, bedurfte es nach Nelson politischer Führer, die bereits zur Erkenntnis dieser Wahrheit gelangt waren. Sie sollten im Staat die Macht erlangen, um die Prinzipien des Rechts durchzusetzen, "unabhängig, ob sich eine Mehrheit findet, deren Wille auf dieses Ideal gerichtet ist." Zu Führern, die in der Lage sind, diesen Zustand herzustellen, sollten die Menschen in der von ihm erstrebten Schule ausgebildet werden. (13)

Zur Finanzierung dieser Schule gründeten bekannte Intellektuelle und Geschäftsleute am  1. Dezember 1918  die  "Gesellschaft der Freunde der Philosophisch-Politischen Akademie" (GFA). Kurz darauf wurde der Verein in Berlin ins Vereinsregister eingetragen; den zweiten Vorsitz hatte der Vater von Leonard Nelson, Justizrat Heinrich Nelson, inne. 

Ein Versuch, staatliche Unterstützung für die Akademie zu erhalten, war in einer Konferenz im preußischen Kultusministerium am 8.Januar 1919 gescheitert; nur die Bestätigung der Schenkung des Schweizer Fabrikanten Roos an die GFA konnte erreicht werden. Die Höhe dieser Schenkung, die das Grundkapital der GFA bildete, ist nicht mehr genau festzustellen. Der Zinsertrag des in der Seifenfabrik Wolf angelegten Kapitals wurde am  18. Mai  1925  in  einer  Aktennotiz  der Gewerbestelle Berlin mit 9600 Mark angegeben. Hinzu kamen noch eine darüber hinausgehende Unterstützung des Seifenfabrikanten Wolf in Schlüchtern sowie regelmäßige Zahlungen kleinerer Beträge durch Privatpersonen. (14)

Die Geldgeber hatten laut Satzung keinen Einfluss auf die genaue Verwendung der Gelder. Leonard Nelson bekam als "oberster Leiter" der zu gründenden Philosophisch - Politischen Akademie alle Entscheidungsbefugnis. (15)

Neben der Finanzierung hatte Nelson sich auch um die Ausbildung von Lehrern für diese Akademie bemüht. Seine Mitarbeiterin Minna Specht ging deshalb 1918 für ein Jahr als Lehrerin in das Lietzsche Landerziehungsheim Haubinda.

Einerseits fehlten nun Ludwig Wunder - von der Philosophie Leonard Nelsons angetan - in der Walkemühle schon bald die nötigen Mittel zum Ausbau des Heims, andererseits sah Nelson in der Walkemühle einen Ort, wo er seine pädagogischen Ideen verwirklichen konnte. Es kam zu einer Zusammenarbeit.

Am 4. Mai 1922 schrieb Wunder dazu an die Tochter von Lietz: "Vorgestern und gestern waren Nelson und Minna Specht bei mir, und wir sind einig geworden, seine Pläne in der Walkemühle zu verwirklichen. Ich habe von ihm den Eindruck eines ganz edlen, hochwertigen Menschen von größter Geistesklarheit, der die von mir gefürchteten Fehler nicht machen wird. Sein anspruchloses und doch opferwilliges Bestreben, der reinen Wahrheit zu dienen, hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. ... Dann werden wir zunächst nur wenige Kinder ohne Rücksicht auf die Bezahlungsfrage, meist Arbeiterkinder, nur nach dem Gesichtspunkt ihrer Qualifikation zum späteren Führer, auswählen und erziehen.  ... Meinen jetzigen Schülern werde ich, da sie sich weder ihrem Charakter, noch den Wünschen ihrer Eltern nach zur Zusammenerziehung mit Arbeiterkindern eignen, andere Möglichkeiten nachweisen müssen. Dies ist heute bereits mit Erfolg in einer Vorbesprechung geschehen." (16) 

Gegen Ende 1922 trafen die ersten Anhänger Nelsons in der Walkemühle ein, um dort noch vorbereitende Arbeiten bis zur Eröffnung des Landerziehungsheimes Walkemühle im Frühjahr 1924 auszuführen.(17)  Im Sommer des Jahres war bereits ein altes Fachwerkhaus abgerissen worden. An seine Stelle wurde bis zur Eröffnung der Schule das große Akademiegebäude gebaut. Rund 300.000 Reichsmark wurden bis zum Frühjahr 1924 für Gebäude und Ausrüstung der Akademie ausgegeben. (18)

Walkemühle -Landerziehungsheim bei  Melsungen

 

 

 

 

 

 

 

 

Walkemühle   -   Generalansicht

Nachdem für Wunder und für die Lehrerin Julie Pohlmann 1923 ein "Unterrichtserlaubnisschein" ausgestellt worden war, wurde im März 1924 für die Oberlehrerin Specht beim Kreisschulrat ein weiterer Erlaubnisschein und die Erlaubnis zum Unterrichten schulpflichtiger Kinder beantragt. Im Brief der Schulinspektion Melsungen an die Regierung in Kassel vom 31.März 1924 hieß es, nach persönlicher Rücksprache mit dem Anstaltsleiter:

"Auf der Walkemühle sind jetzt folgende Zöglinge vorhanden:

2

 

im Alter von 2 und 5 Jahren

2

 

im Alter von 6 und 8 Jahren
(Adoptivkinder  Wunders)

8

 

im Alter von 17 bis 40 Jahren
(3 männl. u. 5 weibl.)

Im schulpflichtigen Alter befinden sich also nur zwei Kinder. Ich habe darauf hingewiesen, dass für diese die Leistungen nach dem Lehrplan für die Grundschule verlangt werden müssten. Ich habe ferner erklärt, dass ich die Angelegenheit der Regierung unterbreiten würde. Wunder sagte mir, dass der Herr Regierungs-Präsident die Anstalt besichtigt habe." (19)

Am 23. April traf in der Walkemühle die Verfügung des Kreisschulrats aus Melsungen ein, den Unterricht mit Zöglingen im schulpflichtigen Alter einzustellen. In Briefen an die Regierung in Kassel und an den Kreisschulrat in Melsungen berief sich Wunder darauf, mit seinem Unterrichtserlaubnisschein, ausgestellt durch den Vorgänger des jetzigen Kreisschulrats in Melsungen, bereits die Genehmigung zum Unterricht schulpflichtiger Kinder erhalten zu haben. Bei einer Rückfrage des Schulamts erklärte der Schulrat, "dass es sich seinerzeit, als er Wunder den Unterrichtserlaubnisschein ausstellte, nur um einen einzigen schulpflichtigen Zögling der Anstalt gehandelt hätte, so dass Bestimmungen betr.  Grundschulpflicht nicht in Frage gestanden hätten." (20)

 

Ohne auf Antwort zu warten, schrieb Wunder am 29. April 1924 einen ausführlichen Brief an "Den Preußischen Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin


Betreff: Genehmigung des Erziehungsheims   Walkemühle bei Melsungen.

                Mit 2 Beilagen.

Der Unterzeichnete bittet den Preußischen Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, ihm die endgültige Genehmigung seines seit drei Jahren bestehenden Erziehungsheimes zu erteilen.

Dieses Erziehungsheim unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von allen übrigen öffentlichen und privaten Erziehungsstätten, nämlich:

  1. darin, dass es einen rein erzieherischen Gedanken absolut unabhängig von allen äußeren Einflüssen, selbst von den Examina und den Wünschen der Eltern unserer Kinder, verwirklicht,
  2. darin, dass es hinsichtlich der Annahme und der Entlassung von Kindern durch keine Rücksicht auf Erziehungskosten geleitet wird, da es infolge der großen Roos'schen Schenkung finanziell völlig unabhängig ist,
  3. darin, dass es sich bei der Aufnahme der wenigen (ca. 12 - 20) Kinder, die es mit Rücksicht auf die strenge Durchführung seiner Erziehungsgrundsätze überhaupt aufnehmen kann, nicht durch die Bitten der Eltern, sondern allein durch die besondere Eignung der Charakteranlagen der Kinder, die nach einem besonderen Ausleseverfahren ausgesucht werden sollen, bestimmen lässt.

Der Erziehungsplan unseres Erziehungsheimes gründet sich auf die erzieherischen Gedanken der Philosophen Sokrates, Platon, Kant, Fries und Nelson und auf die praktischen Erfahrungen des Erziehers Hermann Lietz. Der geistige Vater und geistige Leiter unseres Erziehungswerks ist der Philosoph der Universität Göttingen, Leonard Nelson, der seine erzieherischen Gedanken bereits  am  8. Januar 1919  in einer Rede im Kultusministerium vor dem damaligen Kultusminister Haenisch, Exzellenz Naumann, Geheimrat Norrenberg und Herrn Staatssekretär  Prof. Dr. Becker  in  Berlin entwickelt hat. Hermann Lietz, der bei dieser Rede ebenfalls zugegen war, stimmte dem Redner lebhaft zu, und es ist nur einem Zufall zuzuschreiben, dass die Nelson'schen Gedanken nicht schon damals mit Unterstützung des Kultusministeriums zur Ausführung gelangt sind.

Der Grundgedanke dieser Erziehung ist die Entwicklung des Charakters durch eine solche Pflege des Denkens, dass der zu Erziehende wirklich in den Stand gesetzt wird, sein Tun am Denken und sein Denken am Tun zu prüfen. Dieser Aufgabe dienen, neben einer besonders sorgfältigen Pflege des Körpers durch körperliche Übungen, Sport und Arbeit, das gründliche Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften, besonders der Physik.  Aber diese Studien sollen mehr, als bisher selbst in den besten Schulen geschieht, vom Dogmatismus dadurch befreit werden, dass im Unterricht die von Nelson wieder erneuerte sokratische Lehrmethode angewendet wird. Jede dogmatische und autoritäre Einwirkung auf die Kinder wird von uns als Gift betrachtet und soll durchaus vermieden werden.  Aus diesem Grund bevorzugen wir auch diejenigen Lehrgegenstände, welche den Schüler in den Stand setzen, durch die bloße Erfahrung nachzuprüfen, ob seine Urteile und Schlüsse richtig oder falsch sind, nämlich die Mathematik und die Naturwissenschaften.  Aus dem gleichen Grund wollen wir auch die Wahl des späteren Berufs des Schülers vom Zufall und von Launen und Nützlichkeitserwägungen der Eltern unabhängig machen und sie vielmehr von seiner Entwicklung bestimmen lassen.

Hermann Lietz, der sowohl mit Nelson als mit mir befreundet war, fragte bei der obengenannten Zusammenkunft im Kultusministerium Nelson, ob er für sein geplantes Erziehungsheim schon einen Namen hätte. Als Nelson verneinte, schlug er ihm  (in Anlehnung an den Titel einer bekannten kleinen Schrift von Lietz) den Namen "Heim der Hoffnung" vor.

In methodischer Hinsicht ist das Hauptkennzeichen unseres Erziehungsplans der Gedanke der sokratischen Methode und der absolute Ausschluss aller körperlichen und geistigen Vergewaltigung, zu welcher wir auch den dogmatischen Unterricht zählen. Wie wir uns die Anwendung dieser Grundsätze auf die Gestaltung des Stundenplans denken, zeigen die beiden Unterrichtspläne für die kleinen und die großen Schüler, die wir in der Anlage beifügen.

II. Die zur Durchführung unseres Erziehungsplans vorhandenen Einrichtungen bestehen aus dem etwa zehn Morgen umfassenden Landgut Walkemühle bei Melsungen, auf welchem sich zwei ältere ländliche Wohngebäude und zwei aus Stiftungsmitteln errichtete Neubauten befinden. Der eine dieser Neubauten ist als Unterrichtsgebäude eingerichtet und enthält im Erdgeschoss eine mechanische und eine Tischlerwerkstätte mit Maschinenbetrieb, im ersten Stock je einen Unterrichts- und Vorbereitungsraum für Physik und Chemie, im zweiten Stock einen Zeichensaal und ein biologisches Lehrzimmer mit Vorbereitungsraum. Alle Räume sind für eine Normalzahl von zwölf und eine Maximalzahl von zwanzig Schülern eingerichtet.

Die mechanische Werkstätte enthält eine Schmiedeesse mit Ventilatorgebläse, zwei Drehbänke, eine Schleifmaschine und eine Werkbank mit einigen Schraubstöcken. Die Maschinen werden durch einen 2-PS-Elektromotor angetrieben.

In der Tischlerei befinden sich eine Bandsäge, eine Hobelmaschine, eine Fräsmaschine, eine große Kreissäge, eine Langlochbohrmaschine, ein Leimofen, drei Hobelbänke. Die Maschinen werden von drei Elektromotoren von zusammen elf PS angetrieben. Den Betriebsstrom liefern zwei Wasserturbinen, welche durch den Pfieffebach getrieben werden.

Das Physikzimmer im ersten Stock ist zugleich als Lehrzimmer und als Schülerlaboratorium nach modernen Gesichtspunkten ausgestattet. Es enthält zwei große Schalttafeln für hoch- und niedriggespannten Gleichstrom, Wechselstrom und Drehstrom, sowie für Schwachstrom einer Akkumulatorenbatterie. Es enthält ferner eine zweipferdige Generatorenmaschine für Gleich-, Wechsel- und Drehstrom, zu Schaltungsversuchen der Schüler eingerichtet. Neun Arbeitsplätze können von einer besonderen Stromverteilungstafel mit Strömen jeder Spannung und Stärke einzeln versehen werden. Ein Lichtbildapparat und ein Spiegelgalvanometer vervollständigen die elektrische Einrichtung. Dazu kommen noch die Wasserleitung und die Gasleitung, welche durch Gasolingas gespeist wird, das in einem besonderen Gaserzeugungsapparat hergestellt wird. Endlich läuft an der Decke sämtlicher vier Zimmer des ersten Stockwerks eine Welle entlang, welche von einem 4-PS-Motor angetrieben wird und welche in jedem der vier Zimmer verschiedene Riemenscheiben zum Antrieb physikalischer und chemischer Apparate und Maschinen trägt.

Im Vorbereitungszimmer des Physikraums befindet sich in den Schränken eine Anzahl ausgewählter physikalischer Apparate und Gerätschaften.

Ähnlich, jedoch einfacher ist der chemische Unterrichtsraum ausgestattet. Die Ausstattung des Biologiezimmers und des Zeichensaals sind noch nicht vollständig.

III. Lehrkräfte.  Für Unterricht und Erziehung stehen jetzt drei Lehrkräfte zur Verfügung:

  1. Die Lehrerin und geprüfte Oberlehrerin Frl.  Minna SPECHT für Mathematik, Geographie und Geschichte. Sie legte ihre Universitätsstudien und ihre beiden Lehramtsprüfungen für Mathematik einerseits, für Geographie und Geschichte andererseits in Göttingen ab und arbeitete dann einige Zeit unter Hermann Lietz im Landerziehungsheim Haubinda. Schließlich ergänzte sie ihre Studien durch das Studium der Philosophie und der sokratischen Unterrichtsmethode bei Prof. Nelson in Göttingen.  Frl. Specht ist in den Kreisen der Landerziehungsheime und der entschiedenen Schulreformer als eine der hervorragendsten Lehrerinnen bekannt.
  2. Die Lehrerin und geprüfte Oberlehrerin für Mathematik und Deutsch, Frl. Julie POHLMANN, aus Hannover. Sie erteilt mit Frl.  Specht auf Grund ihres Lehrerinnenexamens den Unterricht der vorschul- und grundschulpflichtigen Kinder.
  3. Ich selbst, Ludwig WUNDER, geprüfter Oberlehrer für Naturwissenschaften, erteile den gesamten Unterricht in den Naturwissenschaften.  Ich habe in Erlangen und München studiert und in München das Maximilianeum besucht. Meine Lehramtsprüfungen habe ich in München abgelegt.  Ich war ein Jahr lang Assistent für Chemie an der Akademie der Wissenschaften in München, zwei Jahre lang Assistent für den naturwissenschaftlichen Unterricht an der Realschule in Schweinfurt und kam dann als naturwissenschaftlicher Lehrer zu Hermann Lietz nach Haubinda. Als Lehrer und Leiter des Landerziehungsheims Schloss Bieberstein blieb ich 9,5 Jahre lang bei Lietz. Nach dem Kriege war ich nochmals kurze Zeit Leiter von Haubinda und gründete dann hier mein Erziehungsheim.

IV. Schüler.  Wir haben bis jetzt 4 kleine Kinder und 4 große Schüler.  Von den kleinen Kindern sind 2 Mädchen von 2,5 und 7 Jahren und 2 Knaben von 5,5 und 8,5 Jahren. Von den großen Schülern ist der jüngste 17, der älteste 22 Jahre alt. Die bis jetzt so geringe Zahl der Schüler und die Lücke in den Altersstufen erklären sich aus der Tatsache, dass unsere Neubauten und Lehreinrichtungen soeben erst fertig geworden sind. Wir beabsichtigen, diese Lücke nun so rasch auszufüllen, als es die immerhin schwierige Auswahl der Kinder für unseren besonderen Erziehungszweck erlaubt. Unsere ganze kostspielige Einrichtung wäre sinnlos, wenn wir nicht die Kontinuität der Altersstufen herstellen würden.

Die Möglichkeit der Erziehung unserer Kinder nach dem Erziehungsplan hängt durchaus davon ab, dass wir die Erlaubnis erhalten, den gesamten Unterricht dieser Kinder, auch soweit die grundschulpflichtigen Jahre in Frage kommen, in unserer Hand zu behalten. Würden wir gezwungen, die grundschulpflichtigen Kinder in die Grundschule nach Adelshausen zu schicken, so würde damit die Einheitlichkeit unserer ganzen Erziehung durchbrochen, und die Kinder selbst würden in unvermeidliche Konflikte gebracht.

Die Bedenken, welche mit guten Gründen gegen die Gesuche der Privatschulen um Dispens von der Verpflichtung, ihre Kinder in die Grundschule zu senden, erhoben werden müssen, dürften bei unserem Erziehungsheim deshalb hinfällig sein, weil die strenge Organisation der Schule, ihre finanzielle Unabhängigkeit und die geringe abgeschlossene Kinderzahl den Eltern gar keine Möglichkeit bieten, ihre Kinder vor der Grundschulverpflichtung in unser Erziehungsheim zu flüchten. Außerdem müssen wir, schon um den Ansprüchen auszuweichen, welche gutsituierte Eltern im allgemeinen an die Erzieher ihrer Kinder stellen und welche uns an der kompromisslosen Durchführung unseres Planes hindern würden, vorwiegend Kinder armer Eltern nehmen, welche kein Interesse daran haben, der Grundschulpflicht auszuweichen.

Ich erlaube mir, die Summe meiner Gründe dahin zusammenzufassen, dass es sich hier um ein noch niemals versuchtes Experiment handelt, an dem sowohl die theoretische als auch die praktische Pädagogik das größte Interesse haben muss, nämlich um den durch das Zusammentreffen besonderer Umstände möglich gewordenen Versuch, die von unseren größten Philosophen erarbeiteten Grundsätze der Vernunft auf die Erziehung anzuwenden, ohne Kompromisse mit unvernünftigen Beweggründen schließen zu müssen. Da die philosophische Grundlage unserer Arbeit in allen wesentlichen Punkten die Philosophie Kants ist und zwar in so hohem Grade, dass man die Schule geradezu als Kantschule bezeichnen könnte, so würden wir es als ein glückliches Vorzeichen unserer Arbeit betrachten, wenn das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, das uns durch die Genehmigung der Roos'schen Schenkung bereits eine so wertvolle Hilfe geleistet hat, nun durch die Genehmigung unserer Erziehungsschule im Jubiläumsjahr Kants auch die eigentliche Bestimmung der Roos'schen Schenkung erfüllbar machen würde. Ich gestatte mir daher auf Grund der vorstehenden Darlegungen die ergebenste Bitte, es möchte uns die dauernde Erlaubnis zur Führung unserer Schule einschließlich der Erlaubnis zum Unterricht der grundschulpflichtigen Kinder baldigst erteilt werden."


Tagesplan auf der Walkemühle

Stundenplan auf der Walkemühle

Das Schreiben wurde von Berlin zur Kreisschulinspektion nach Melsungen und von dort zur Regierung nach Kassel weitergeleitet. Woraufhin die Regierung aus Kassel nach Berlin schrieb, sie hätten von einer selbständigen Erledigung abgesehen, da die Angelegenheit das Ministerium bereits beschäftigt hätte.

Im August 1924 kam dann aus Berlin die Genehmigung:

Genehmigung des Erziehungsheim Walkemühle

Nachdem die Genehmigung erteilt war, kam es zum Streit zwischen Wunder und Nelson. Wunder verließ daraufhin die Walkemühle am 27. November 1924.

Ein Dorfbewohner erinnert sich: "Ich war in der Eingangshalle des alten Fachwerkgebäudes.  Da hat der Ludwig Wunder den Ofen so angeheizt, dass der rotglühend war. Ich habe gesagt: ,Ludwig, du steckst ja die ganze Mühle an!' da hatte der schon Streit mit Specht und Nelson und sagt: ,Reg du dich nicht auf!' Ich dachte mir, da stimmt doch was nicht, der will die alte Mühle noch anstecken.  Und dann war er plötzlich weg." (Johann Eckhardt )

Der Landrat von Melsungen meldete die Gerüchte um den Weggang Wunders nach Kassel, nachdem er den Ländjäger (Polizisten auf dem Lande, wegen ihrer Uniform "die Grünen" genannt) beauftragt hatte, "Feststellungen zu treffen". Der meldete, dass Wunder nach Aussage von Fräulein Specht, die jetzt Leiterin der Anstalt Walkemühle wurde , nicht wieder zurückkommt. Wunder reiste zuerst zu seiner Schwester nach Nürnberg, später gründete er noch einmal ein Landerziehungsheim in Herrlingen bei Ulm. Gleichzeitig mit Wunder verließen auch seine beiden Adoptivkinder sowie zwei Frauen, eine Lehrerin und ihre Mutter, die Walkemühle. (23)

Im Bericht des Landjägers heißt es: "Der zuständige Bürgermeister sagt aus, dass ein Gerücht in Umlauf gewesen sei, Wunder habe sich mit Nelson überworfen. Nelson sei Wunder in politischen sowie in kirchlichen Beziehung zu radikal, er, Wunder, könne dies nicht mit seinem Gewissen verantworten. Dies sei auch der Grund für die plötzliche Abreise, etwa am 5. Dezember, gewesen.

Inwieweit dies Gerücht auf Wahrheit beruht, muss festgestellt werden.

gez. Fack

Oberlandjäger."  (24)

Wunder hatte also sehr plötzlich die Schule verlassen und hatte sich auch nicht in Adelshausen abgemeldet, obwohl er dort sogar als Gemeindeverordneter gewählt worden war.  Niemand außerhalb der Schule wusste etwas Genaueres, und die, die es genau wussten, die in der Schule waren, waren äußerst zurückhaltend und schwiegen.

Das Schreiben des Landrats von Melsungen an die Regierung in Kassel baute dann allein auf Gerüchten auf. Es wurden die schon lange gehegten Bedenken wegen Wunders Persönlichkeit geäußert. Zu neuen Bedenken gaben auch die nachgereisten Frauen Anlass, politisch wurde er jedoch als "gemäßigt und idealdenkend" angesehen. Angefügt wurden noch Befürchtungen um die zukünftige Entwicklung der Walkemühle:

"Mit dem Fortgehen von Wunder wird, wie ich stark befürchte, die Anstalt in ein bedeutend radikaleres Fahrwasser gelangen. Der Prof. Nelson ist, wie ich bereits in meinen früheren Berichten mir auszuführen erlaubt habe, politisch stark verdächtig gewesen. Ich darf nochmals meine Bitte vom 12. August 24 wiederholen um Feststellung der politischen Tätigkeit und Einstellung von Prof. Nelson. Ich werde weiter die Angelegenheit im Auge behalten, muss aber betonen, dass jede irgendwie einwandfreie Feststellung unter den heutigen Verhältnissen außerordentlich schwierig ist." (25)

Ein ehemaliges IJB-Mitglied meint heute rückblickend dazu: "Es ging um die Leitung der Schule, und da beide sehr starke Persönlichkeiten waren, Nelson wie Wunder, hat sich keiner dem anderen unterordnen können. So ist einer gegangen:  Wunder." (Erna Blencke)

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