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Die Walkemühle
Landerziehungsheim von (1921-1933)
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3 Vorwort

1. Die vorliegende Arbeit ist im Jahre 1976 entstanden. Rudolf Giesselmann hat lokale Geschichte erforscht. Er hat daraus nicht einen einzelnen, in sich stimmigen Bericht geschrieben, sondern viele, mitunter sich auch widersprechende Geschichten zusammengetragen.

Der Autor lässt in zahlreichen Interviewauszügen vor allem Zeitzeugen zu Wort kommen: Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Nachbarn und andere Menschen, die mit der Walkemühle zu tun hatten.

Weiterhin hat Giesselmann Dokumente und Akten aus Archiven ausgewertet und vorhandene Literatur einbezogen.

Auszüge aus Stundenplänen der Schule und Pensenbüchern einer Lehrerin sowie Fotos tragen zur Illustration dieser Arbeit über das Landerziehungsheim Walkemühle bei.

Entstanden ist dabei nicht ein einheitliches Bild, nicht eine einheitliche Geschichte, es handelt sich eher um eine Collage.

Deshalb dieser Titel:

"Geschichten von der Walkemühle".

2. "Das liest doch keiner". "Was ist denn daran heute noch aktuell?" In Melsungen waren noch einige weitere Kommentare dieser Art zur geplanten Veröffentlichung zu hören.

Zweimal, so heißt es, werden in der Geschichte die Besiegten geschlagen: zum ersten auf dem Schlachtfeld und zum zweiten in der Geschichtsschreibung, wo ihre Geschichte unterdrückt oder vernachlässigt, verfälscht oder ignoriert wird.

Im Geschichtsunterricht am Melsunger Gymnasium haben wir so manches über Wüstungen erfahren - die Namen Stonichenrode, Reinwerkerode, Berterode und Wendesdorf wurden uns ausgiebig vorgetragen. Und dass Schwerzelfurt irgendwann im Mittelalter nicht weit entfernt von Adelshausen lag, wurde uns hinreichend eingetrichtert.

Dass vor wenigen Jahrzehnten, von 1924 bis 1933, auf der Walkemühle - ebenfalls nahe Adelshausen - ein sehr bemerkenswertes pädagogisches Experiment stattfand, wurde nicht einmal andeutungsweise erwähnt.

Die Geschichte der Walkemühle, so wie sie in der Gegend von Melsungen - wenn überhaupt - überliefert wird, erscheint verformt, verbogen, vernebelt: Begriffe wie "kommunistische Sekte" oder "Edelkommunisten" tauchen auf, nur spärlich ist Konkretes  auffindbar.

Ganz wenige positive Ansätze hat es in Melsungen gegeben, so etwa die Rede von Walter Hoffmann zur Abiturfeier an der Geschwister-Scholl-Schule im Juni 1985.

3. Bemerkenswert waren an der Walkemühle zunächst einmal jene Grundzüge, die auch andere Landerziehungsheime prägten: das gemeinschaftliche Lernen, Arbeiten und Leben im Internat, die Verbindung von theoretischer und praktischer Arbeit, der Ansatz "exemplarischen Lernens", der der heutigen Projektmethode nahe kommt, sowie die außerordentlich große Bedeutung des musischen Bereichs.

4. Darüber hinaus war wohl am erstaunlichsten für jene Zeit nicht nur der kostenfreie Schulbesuch, die Betonung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Arbeitern und Akademikern sowie die antimilitaristische Einstellung,  sondern auch die im Unterricht praktizierte "sokratische Methode". Diese konsequente Abwendung vom autoritären, eintrichternden Unterricht reichte gewiss schon in damaliger Zeit noch weiter als so manches, was derzeit in Unterricht und Lehrerausbildung in dieser Richtung aus gutem Grunde angestrebt wird.

5. Nicht näher eingegangen werden soll an dieser Stelle auf die in Melsungen mitunter zu hörende Bezeichnung "Kommunisten"  bzw. "Edelkommunisten". Dass von NS-Seite diese Begriffe verwandt wurden, macht derartige Beschimpfungen keineswegs unverdächtiger.

Nelson und der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) vertraten entschieden andere Positionen als diejenigen, in deren Nähe sie oft geschoben werden sollten.

Auch der häufig erhobene Vorwurf des Sektierertums ist äußerst wohlfeil. Im Scheitern der ersten deutschen Demokratie am Anfang der dreißiger Jahre wurde hinreichend deutlich, wie tragisch gerade die großen, traditionellen Parteien und Gewerkschaften in der Einschätzung und Bekämpfung des Nationalsozialismus irrten. SPD und KPD verwandten einen großen Teil ihrer Kraft zur gegenseitigen Bekämpfung, während der ISK angesichts des drohenden Faschismus mit aller Kraft versuchte, eben diese Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden.

6. Die der Walkemühle zugrundeliegende strenge moralisch - ethische Orientierung, der Versuch Leonard Nelsons, dies wissenschaftlich zu begründen mit Bezug auf die Philosophen Kant und Fries, mag heute auf den ersten Blick etwas unverständlich erscheinen. Zu fragen bleibt allerdings, welche Bedeutung Ethik in der heutigen Zeit für Politik und Pädagogik besitzen soll.

Wer im Fernsehen jene älteren Menschen in Hongkong sieht, die aufgrund ihrer Armut in Käfigen leben, bekommt einen Eindruck davon, was Globalisierung der Marktwirtschaft heißt, wenn moralische Verantwortung in der Politik verkümmert.

Gleiches gilt gewiss für einen großen Teil unserer Politiker, die weniger der einzelnen Partei und ihrem Programm sich verpflichtet fühlen denn der "erlauchten" Gesellschaft vom "Stamme Nimm".

Wer Gewalt, Sachbeschädigung und andere Aggressionen an unseren Schulen erlebt, kann der Diskussion, wie eine bedeutend stärkere Verankerung von Werten in der Erziehung erreicht werden kann, nicht ernsthaft ausweichen.

7. Nelson und der ISK traten für einen führerschaftlich organisierten Rechtsstaat - ohne Parlamentarismus - ein, die Walkemühle sollte auch und gerade der Erziehung und Bildung dieser Führer dienen. Die grundlegende Orientierung an Prinzipien von Moral und Ethik, wie Kant, Fries und Nelson sie begründet hatten, und die daraus erwachsende konsequente Betonung der herausragenden Bedeutung des Rechtsstaates verbietet sicher eine Gleichsetzung dieser Idee der politischen Führung mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip.

Doch die irrsinnige Gewalt- und Willkürherrschaft des Nationalsozialismus diskreditierte letztlich jeglichen politischen Ansatz, der auch nur einen Hauch von "Führerschaft" beinhaltete, ohne schlüssig demokratisch kontrollierende Gegengewichte nachzuweisen. Es ist daher verständlich, dass diese politische Grundlinie der führerschaftlichen Organisation nach 1945 keine nennenswerte Rolle mehr spielte.

Allerdings erübrigt die Hinwendung zur bundesrepublikanischen Demokratie keinesfalls weitergehende Überlegungen etwa zur Bedeutung von Eliten für eine Demokratie. "Es liegt in der egalitären Tendenz der Demokratie" so schreibt Otto Schily unter Bezug auf Toqueville am 24. 2. 1996 in der Frankfurter Rundschau, "dass in Parlament und Regierung das Mittelmaß die Regel ist." Und er plädiert wie Dieter Schmid dafür, die Mitwirkung von Eliten aus Kultur und Wirtschaft zu institutionalisieren, neben Regierung, Parlamenten und Gerichtsbarkeit eine "Consultative" einzurichten, die als beratende Instanz "Effizienz und allgemeine Qualität der politischen Entscheidungen erheblich verbessern" würde. Aus liberal-konservativer Sicht hat im übrigen Konrad Adam von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ähnliches geäußert.

8. Vieles ließe sich noch hinzufügen. Verwiesen seien Interessierte stattdessen vor allem auf die Arbeiten von Birgit S. Nielsen (Erziehung zum Selbstvertrauen. Ein sozialistischer Schulversuch im dänischen Exil 1933 - 1938, mit einem Abschnitt über die Walkemühle) und die umfangreiche Specht-Biographie von Inge  Hansen-Schaberg (Minna Specht - Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung).

Bad Homburg, Juli 1997                Ernst Stracke

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