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Die Walkemühle
Landerziehungsheim von (1921-1933)
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4 Wie man davon hört, ...

Im Sommer 1975 war ich in Auschwitz und Buchenwald. Dort gibt es Karten, auf denen sämtliche Vernichtungslager des Dritten Reichs verzeichnet sind. Auch südlich von Kassel leuchtete ein Lämpchen auf. Melsungen? Mein Freund kam aus Melsungen.

Er hatte dort in einer Jugendgruppe einmal die Geschichte der Stadt Melsungen im Dritten Reich aufarbeiten wollen und konnte sich an ein Gespräch erinnern, das jemand aus der Gruppe mit einer Frau im Altersheim über die Walkemühle geführt hatte:  Dies ist eine ehemalige Mühle bei Melsungen, da waren später eine internationale sozialistische Schule, womöglich ein kleines Konzentrationslager der Nazis, dann eine SA- bzw. HJ-Schule und nach dem Kriege eine Bierdeckelfabrik.

Die Phantasie malte aus, was zwischen diesen kargen Sätzen stehen könnte, wie diese mehrmals gebrochene Geschichte der Walkemühle erlebt, aufgenommen, mitgemacht, erkämpft, bekämpft worden war. Wir besaßen Bruchstücke von anderen Geschichten aus diesen Zeiten, besonders aus Filmen, fällt mir ein, die stellten wir probeweise zwischen diese Angaben.

Was geschah wirklich?  Wer weiß noch darum?  Oder gibt es auch da mal wieder nur wenige, die was wissen, und viele, denen ihr eigenes Unbeteiligtsein durch die Worte "wechselvolle Geschichte" vollends zur Selbstverständlichkeit gerät?

"Da ist alles drin", dieses Gefühl löste bei mir den Wunsch aus, daran zu gehen, in Berührung mit dieser Geschichte zu kommen. Eine besondere Geschichte, aber wahrscheinlich auch eine typisch deutsche Geschichte.

... mehr darüber erfährt ...

Ganz einfach: Ich bin zu der Walkemühle herausgefahren und habe dort mit den Leuten gesprochen. Der heutige Besitzer konnte mir dann zwar über die Geschichte der Walkemühle noch keine Auskunft geben: "Ich weiß überhaupt gar nichts", nannte mir aber einen älteren Bürgermeister in Adelshausen, dem Dorf, zu dem die Walkemühle gehört.

Der erzählte mir dann schon eine Menge: Er hatte die Walkemühle bereits zu jener Zeit gekannt, als dort die sozialistische Schule gegründet worden war. In dieser Schule hatte er selbst am Anfang Kurse besucht und manchmal auch als Weißbinder gearbeitet. Er schenkte mir dann noch ein Buch über die Heimatgeschichte von Adelshausen, in dem  auf einigen Seiten die Geschichte der Walkemühle beschrieben ist, und nannte mir noch einige Namen und Adressen von Menschen, von denen er wusste, dass sie mit der Walkemühle auf irgendeine Art in Beziehung gestanden haben.  Erste Anknüpfungspunkte...

Diese Menschen habe ich dann besucht. Oft waren sie an der Walkemühle sehr interessiert und erzählten mir bereitwillig all das, woran sie sich noch erinnern konnten, einige dagegen wollten nichts mehr davon wissen. Ich schrieb alles auf, konnte langsam auch gezieltere Fragen stellen und mir so nach und nach ein besseres Bild machen.

Doch schon bald bemerkte ich dann Stellen in diesem Bild, die grau blieben. Nur für die Zeit der internationalen sozialistischen Schule bis zum Jahre 1933 fand ich Menschen, die mir ihre Geschichten davon erzählten, mich auf Bücher und Archive hinwiesen.

Für die Zeit des Nationalsozialismus konnte ich jedoch bis auf eine Person niemanden finden, der bereit war, etwas zu erzählen. "Was ich weiß, wird ihnen auch nicht weiterhelfen", gehörte noch zu den vornehm formulierten Reaktionen auf das Erinnertwerden an die Geschichte der Walkemühle.

Viel schriftliches Material, sei es bei der Regierung in Kassel oder in der Walkemühle selbst, hatten die Nazis zu Kriegsende vernichtet. Doch das werde ich noch in einem ausführlicheren Kapitel am Schluss der Arbeit darstellen.

Über die Bierdeckelfabrik gab es dann auch nicht mehr viel zu erkunden. Es war unvorstellbar für fast alle, die ich daraufhin angesprochen habe, dass es darüber Wichtiges zu erzählen gäbe.

"Wahrscheinlich ist es ja wirklich nicht so wichtig." Diese Nicht-Äußerung über die NS-Zeit und den fleißigen Wiederaufbau ist Geschichte. Solch verbreitete Verdrängung lässt es nicht zu, in meiner Arbeit verschiedene Zeitabschnitte gleichgewichtig darzustellen, wie ich es zu Beginn meiner Erkundungen noch vorhatte. So war ich aufgrund meiner ersten Befragungen gezwungen, meine Arbeit auf die  Zeit von 1921 bis 1933 zu konzentrieren.

Aus welchem Stoff nun ist das vorliegende Buch entstanden ?

Zuerst einmal Gespräche, dann Sonderakten des Kasseler Regierungspräsidenten als Schulbehörde aus dem Staatsarchiv Marburg, verschiedene Materialien aus dem Archiv der Philosophisch-Politischen Akademie in Frankfurt: Aufsätze, Briefe, Schülerhefte, Fotos und sogar eine Staatsexamensarbeit über "Die Walkemühle" (1), dann Bücher und Zeitungsausschnitte aus den Bibliotheken in Kassel und Marburg. Reichhaltiges Material, aber wenig, gemessen an dem, was überhaupt bestanden hat und dann vernichtet worden ist.

Und Gespräche, in denen man das mitgeteilt bekommt, was Menschen so viel bedeutet hat, dass sie sich nach mehr als vierzig Jahren noch daran erinnern.

Diesen Erfahrungen will ich nun eine Form geben, sie aufschreiben. Sie treten mir als einzelne Geschichten, als Bruchstücke gegenüber, doch es sind nicht nur beliebige einzelne Geschichten, sondern jeder, der erzählt, drückt in ihnen auch so etwas wie den Zusammenhang seines Tuns und seines Denkens aus. An was kann er sich noch erinnern ?  Wie drückt er es aus ?  Um das Erleben in diesen Geschichten zu erhalten, habe ich sie meist im Originalton gelassen.

...und wer welche Geschichten erzählt.

Was machen die ehemaligen Mitglieder des ISK, die als Schüler, Helfer und Lehrer auf der Walkemühle waren, heute (d.h. 1976, d. Hrsgbr.)?

Sie sind Rentner, Pensionäre, 65 - 85 Jahre alt, viele leben auch schon nicht mehr. Sogar die, die damals als kleine Kinder auf der Walkemühle waren, sind heute bald fünfzig Jahre alt.

Die Walkemühle beschäftigt diese Menschen heute noch. Der Zusammenhang zwischen ihnen ist nie ganz abgerissen, man ist befreundet, trifft sich, wenn jemand seinen Geburtstag feiert, auch wenn jemand stirbt. Der Arbeitskreis "Geist und Tat", der aus dem Leserkreis um die gleichnamige Zeitschrift hervorgegangen ist, die nach dem Kriege von Willi Eichler als Fortsetzung des "ISK" herausgegeben worden war, veranstaltet alle Pfingsten Tagungen. Da hört man Vorträge, die mit der Theorie Leonard Nelsons in Verbindung stehen, nimmt teil an sokratischen Kursen und tauscht Erinnerungen aus.

Nachdem der Nazismus 1945 in Deutschland von den Alliierten zerschlagen worden war, beschlossen damals die Mitglieder des ISK, nun in einer größeren Partei mitzuarbeiten, der SPD, und "mitzuhelfen, einen demokratischen Staat zu errichten." Sie hatten gelernt, "welche Gefahren das Führerprinzip, das sie vor dem Kriege selbst vertreten hatten, mit sich bringt." (Willi Warnke)

So übernahmen dann fast alle ehemaligen Schüler, Helfer und Lehrer der Walkemühle eine "öffentliche Aufgabe". Für diese öffentlichen Ämter geeignet zu sein, das schreiben viele der Erziehung auf der Walkemühle zu, und ein wenig stolz zählt man mir immer wieder auf, wo ehemalige Schüler der Walkemühle "etwas geworden sind": in der Gewerkschaft (u.a. der zweite Vorsitzende im DGB), in den Parlamenten und Regierungen der Länder (u.a. ein Ministerpräsident), beim Rundfunk (u.a. der Intendant des Südwestfunks), Sozialarbeiter, Leiter von Heimvolkshochschulen und eine Reihe von Bundestags- und Landtagsabgeordneten.

In der Nazizeit hatten viele aus der Walkemühle im Widerstand gekämpft, in Deutschland selbst oder in der Emigration. Einige hatten mit dem Widerstand vom 20. Juli in Verbindung gestanden, wird von Willi Warnke erzählt, andere hatten im Widerstand vegetarische Gaststätten eröffnet, die als Kontaktzentren dienten, so berichtet Hedwig Urbann.

Mehr als 45 Jahre liegen zwischen dem Geschehen auf der Walkemühle als Schule des ISK und heute, wo es mir erzählt wird.

Vieles hat man nach so langer Zeit vergessen, aber nicht wenige Geschichten sind haften geblieben, sind mit der Zeit bloßgewaschen worden, sind auch schon lange nicht mehr die Geschichten der einzelnen geblieben.

Geschichten, die man von anderen gehört hat, die man gelesen hat, sind eingeflossen. Und dann doch wieder Stimmengewirr: Das eigene Erlebnis bricht sich Bahn, und keine Zwischenfrage oder Bemerkung von mir könnte die Beschreibung der vor ihren Augen vorüberziehenden Bilder aufhalten.  Hier ist es ganz direkt, es wird nacherlebt, Gesichter, Hände sprechen mit.

Ich montiere nun diese Geschichten, stelle sie gegenüber - und unverbunden verbinden sie sich zu einer neuen Qualität:  erzählter Geschichte.

Dies ist nicht Geschichte, wie sie heute noch immer üblicherweise geschrieben wird, hauptsächlich aus schriftlichem Material zusammengestellt.

Geschrieben haben doch meist nur Behörden oder auch anderen herrschende Instanzen, meist getrieben vom Strom des "Zeitgeistes".

Aber warum eigentlich sollen die Protokolle eines Landschulrats objektiver sein als die Erinnerungen eines Schülers ?  Wer hat dabei welche Interessen ?  Was hat denn die Wirklichkeit der Menschen auf der Walkemühle mehr bestimmt: die Theorie Nelsons (neun Bände oder viertausend Seiten) oder das, was Menschen davon im Kopf hatten?

Die Historie, die man im Kopf hat, ist möglicherweise das, was man sich merken kann, und das, was dazu taugt, sich im weiteren Leben zu orientieren, oder zumindest taugt, noch einmal erzählt zu werden.

Wünsche und Hoffnungen werden an diese Geschichten geknüpft, Rechtfertigung gegenüber erlebter Kritik wird vorsorglich mit eingebaut. Die Walkemühle ist das, was von der Walkemühle erzählt wird, die Interessen der Erzählenden und Zuhörenden sind in ihr enthalten. Denn warum redet man überhaupt darüber, warum hört man zu?

Einigen wenigen ist es heute peinlich geworden, sich an die Radikalität ihrer Jugendzeit zu erinnern; fast alle haben ja öffentliche Ämter innegehabt. Manche grenzen sich ab gegen heutige linke Gruppen, mit denen man verglichen werden könnte: "Gruppen, die immer nach mehr Demokratie rufen, aber wenn sie die Macht haben, die Demokratie sofort beseitigen würden."

Meinem Einwand, so hätte das der ISK ja vielleicht gemacht, wird erwidert: "Aber wir haben das ja auch offen vertreten, das konnte jeder hören." (Emmi Gleinig )

Oder man sagt: "Das Wort ,Sozialismus', das ist ja dermaßen diskreditiert und wird ja in ein Fahrwasser gezogen, in dem es gar nicht gewesen ist. Das Ziel war, den Rechtsstaat herzustellen, mit dem sogenannten objektiven Recht." ( Willi Schaper )

Diese Geschichten, wie sie mir erzählt wurden, in einer Collage konfrontiert mit den Sonderakten der Schulbehörde über die Walkemühle, mit Theoriefragmenten Nelsons, mit Zeitungsartikeln und Fotos, ergeben ein Geflecht und lassen Lücken entstehen, und vielleicht entfaltet sich gerade in diesen Lücken die Phantasietätigkeit des Lesers, seine Interessen.

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